„El Choclo“ ist ein uraltes Tango Argentino -Stück. Doch beim Tango tanzen habe ich es bisher (bewußt) nicht bemerkt. Sondern durch gleich zwei neue Interpretationen, die (unabhängig von einander) mein Feuer für dieses Lied entfacht haben. Ja, ich muß sogar gestehen, dass ich ein paar Wochen gebraucht habe, um zu schnallen, dass es sich letztlich bei beiden eigentlich um das gleiche Lied handelt – so genial sind Beide auf ihre ganz eigene Art und Weise.
Auf Beide werde ich am Ende zurück kommen. Doch hat mich die Entdeckung des gleichen Ursprungs dazu inspiriert, die Herkunft und den Werdegang dieses Liedes zu recherchieren. Und was ich dabei entdeckte ist vielleicht die längste und (in vieler Hinsicht) aufregendste Geschichte meiner vergleichenden Musikstudien.
„El Choclo“ (spanisch: Maiskolben) ist eine Kompositon von Ángel Villoldo, einem argentinischen Musiker. Angeblich leitet sich der Titel von dem Spitznamen eines Nachtclubbesitzers ab. Das Instrumentalstück kam 1903 (also lange vor der Época de Oro) in Buenos Aires heraus und wurde in dem Restaurant „El Americano“ auf der 966 Cangallo Street von einem von Jose Luis Roncallo geleiteten Orchester uraufgeführt.
Erst später wurde ein Text hinzugefügt. Mit steigender Dramatik:
The original lyrics by Villoldo specifically sang about the corn cob as food. He later wrote another version titled „Cariño Puro“. Another version was written by Marambio Catán, but the most popular remains Enrique Santos Discépolo’s (1947), which sing about tango as a way of life.
Quelle: Wikipedia
Dieser Text beschreibt den Aufstieg des Tangos und der Sängerin aus dem Slum in das Nachtleben der Metropole und wie die Musik ihr nach wie vor in sentimentaler Erinnerung das Herz bewegt.
Mucho Tango. Und so konnte sich El Choclo nicht nur etablieren – sondern sich wie ein Ohrwurm-Virus in die gesamte Musikgeschichte – bis zum Hard Rock – verbreiten können. Doch fangen wir – ganz klassisch – am Anfang an:
1903 waren die Aufnahmemöglichkeiten noch sehr begrenzt. Die frühste Aufnahme, die ich finden konnte, stammt (vermutlich) aus dem Jahr 1929 (Ángel Villoldo – verstorben 1919: – hat diese Aufnahme nicht mehr erlebt)
„El Choclo“ von Orquesta Tipica Victor
Freundlich-upbeat und (trotz intensivem Rauschen der Zeit) ist in dieser reinen Instrumental-Version bereits alles angelegt, was ich an diesem Lied mag.
Von 1936 stammt die folgende Interpretation mit Gesang von „El Choclo“ von Francisco Canaro Y Su Orquesta Típica Argentina (Vocal: Alberto Arenas), die sich zwar schneller, aber weniger dynamisch und ein wenig „süßer“, humoristischer – ja fast ironisch – anhört:
„El Choclo“ von Francisco Canaro Y su Orquesta
Zu alter Dramatik kehrt die Aufnahme von Juan D’Arienzo von 1948 zurück, die die Dynamik noch einmal verschäft – hier ist der Unterschied zwischen gehetzt-treibenden Bandoneos und süß-schmachtenden Streichern noch größer (was wir natürlich auch der schon verbesserten Aufnahmetechnik verdanken). Genial finde ich hier, wie das Piano zwischen den beiden Parteien zu verhandeln / moderieren scheint:
„El Choclo“ von Juan D’Arienzo Y Su Orquesta
1949
1949 erschien der Musical-Film „La historia del Tango“, der auch eine starke Version von El Choclo featurte und vermutlich (ohne dass ich das belegen kann) dafür verantwortlich ist, dass El Choclo kurz darauf in den USA durchstartete:
Tita Merello canta „El choclo“ – La historia del Tango 1949
1952
Danach dauerte es keine drei Jahre bis zu einem unglaubllichen Boom für das Lied: 1952 wurden in den USA sagenhafte 7 (in Worten: sieben) Versionen von „El Choclo“ veröffentlicht. Natürlich nicht unter dem kommerziell dort schwer vermittelbaren Namen „El Choclo“ (oder dessen Übersetzung „Corncob“ / „Maiskolben“) sondern als „Kiss of Fire“ und mit anderem – englischem – Text. Zwei davon (die vollständige Liste hier) möchte ich vorstellen:
Louis Armstrong – Kiss of Fire
In meinen Ohren eine wunderschöne Jazz-Adaption. Nah genug am Original, dessen Stimmung es einfängt – ohne jedoch die Dynamik der Tango Orchester erzeugen zu können. Dafür von der Qualität der Aufnahme ein Quantensprung.
Georgia Gibbs Version ist aus drei Gründen bemerkenswert: Erstens ist es die Version, die bis dahin (und vielleicht für alle Zeiten) die am meisten verpopte (auf den Massengeschmack zugeschnittene) Version – mit der geringsten musikalischen Dynamik, zweitens ist hier Verhältnis zwischen Musik und Gesang in Gegenssatz zum Ursprung völlig umgekehrt ist: Der Gesang dominiert alles, die Musik ist zur reinen Begleitung verkommen. Alles was „El Choclo“ (m.M.) besonders gemacht hat, ist verschwunden. Und drittens: Diese Version war ein Nr.1 Hit in den USA – und damit die einzige Version von El Choclo, die es in irgendwelchen Charts auf den Platz 1 schaffte. 🙂
Georgia Gibbs – Kiss of Fire
Und trotz allem: Immer noch ein schönes Lied.
Interessant finde ich auch die Interpretation von Frankie Laine, die nur noch minimale musikalische Anleihen an die Original-Komposition aufweist, aber dennoch mehr (eigene) musikalische Dynamik hat als Gibbs Version. Auch deshalb ein Zeitdokument, weil Lane das Stück nie auf Platte aufgenommen hat, sondern nur einmal (1953) in seiner TV Show sang – deren Bilder weitere interesssante Einblicke in die 50er gewähren:
Frankie Laine – Kiss Of Fire
Jedenfalls hatte ein kleiner argentinischer Tango aud dem Jahr 1903 nun – 50 Jahre später – Musikgeschichte geschrieben. Doch damit nicht genug:
1958
Im (europäischen) Schlager angekommen: Durch Caterina Valente
Der nächste – wohl unvermeidliche – Schritt war der Re-Export in die spanisch-sprachige Welt:
1959
Der Jazz-Pop Musiker Nathaniel Adams Coles (aka Nat „King“ Cole) schafft eine amüsant-congeniale Synthese aus beiden Welten: Unter der etablierten Titel-Marke „Kiss of Fire“ singt er (der US Amerikaner) den ursprünglichen spanischen Text. Und während er auch zu den ursprünglichen musikalischen Motiven zurückkehrt (auch von der Instrumentalisierung mit Bandoneos, Streichern und Piano), so ist seine Version dennoch immer noch eine einfache Pop-Version. Gewürzt mit einem brachial-charmanten US-englischen Aktzent. Göttlich auf seine ganz eigene Art:
NAT KING COLE – KISS OF FIRE
Der King schien jedoch einen Nerv getroffen zu haben: Nur ein Jahr (1960) später schuf Connie Francis mit „Beso de Fuego“ eine andere Spanisch-sprachige Version, die nun auch den „falschen“ Titel spanifiziert, sich musikalisch aber vollständig an Georgia Gibbs orierntiert – auch wenn Francis selbst eine dramatischere Stimme hat:
Connie Francis – Beso de Fuego
1963
Die nächste Welle der Anerkennung sollte nicht lange auf sich warten lassen: Der aufkommende Gitarren-Rock der 60er suchte Motive und „El Choclo“ war nicht vergessen. Zumindest in Europa. Hier wurde das Tango-Origninal (die US-Pop-Versionen ignorierend) charmant-freundlich in Rock-Interpretationen übersetzte: Von „The Noise-Makers“ aus Holland 1963 , den „Jumping Jewels“ (ohne Jahr) und von „The Jokers“ (ohne Jahr) aus Belgien.
The Noise-Makers – El Choclo (1963)
The Jokers – El Choclo
Jumping Jewels – El Choclo
Zu gern hätte ich natürlich gehört, wie „The Doors“ oder „Pink Floyd“ solches Material verarbeitet hätten. Aber eine Idee davon (und von dem musikalischen Potential in El Choclo) bekommt man durch die Interpretatio, die die indonesisch-holländische Band Tielman Brothers unter dem Titel „Black Eyes Rock“ veröffentlichte:
Tielman Brothers – Black Eyes Rock
Völlig cool. Mit den Tielmann Brothers werde ich mich beschäftigen müssen. Wow! Auf jeden Fall die eigenständigeste, kreativste und innovativste Interpretation von El Choclo in dieser Sammlung. Würde ich gern mal zu tanzen.
Spätenstens danach hatte sich El Choclo im musikalischen Weltbewußtsein verankert und andere Musikrichtungen griffen das Lied auf. Naheliegend ist eine Cha-Cha Version, die uns die Band Earl Bostonic geschenkt hat:
EARL BOSTIC – EL CHOCLO CHA CHA
Wer unbedingt will, kann also zu diesem Tango nun auch Cha-Cha tanzen. 🙂
Interessanter sind musikalisch vielleicht ehr diese Versionen:
Nueve Millas „El choclo“ im Reggae Style
oder als Ska:
El Choclo – Nine Miles From Kingston
Und auch wenn die Ähnlichkeit nur noch fern – aber dennoch offensichtlich – ist, auch die Hiphop/Gangster-Rap Band „Delinquent Habits“ hat sich für ihren Song „Return Of The Tres“ am zentralen Thema von „El Choclo“ orientiert:
Delinquent habits – Return Of The Tres
Ließe sich sicher auch spannend als Tango tanzen. 🙂
Die Musikrichtung jedoch, die „El Choclo“ am engsten (und leider ehr unkreativ) in die Arme geschlossen hat, ist der (Hard) Rock. Hier fünf (keineswegs ganz schlechte und durchaus unterschiedliche) Versionen – unkommentiert:
Osvaldo Dufour – El Choclo
Baldosa Floja – El Choclo
Adrian Subotovsky – Sutotango – El choclo
Elegiases – Tango Choclo
Nacha Guevara – El Choclo
Neuen kreativen Drive erhielt „El Choclo“ dagegen durch die Tango Nuevo-, Neo Tango- und Electro Tango-Bewegungen der letzten 20-30 Jahre. Altertango beginnt seine Version zärtlich-unspektakulär, um dann überraschend dramatisch zu eskalieren:
ALTERTANGO – El choclo
Das Gotan Projekt drückt aufs Gas und schaffte eine Milonga-Version…
Gotan Project – El Choclo
…die ins Schwitzen bringt.
Ebenso:
Natallia & The Electronic Tango Band – El Choclo
„Los Machucambos“ bleibt musikalisch zieimlich klassisch, bereichtert das Stück aber durch spannende Mehrstimmigkeits- / Chor- / Akapella- / Beatboxing- Elemente.
Los Machucambos – El Choclo
Martha Psyko erzeugt mit ihrere E-Geige eine dramatische schnelle E-Tango Version so an der Grenze zum finnischen Hard Rock, dass sie damit vermutlich auch beim Wacken Festival auftraten könnte (Ingwie Malmsteam läßt schön grüßen):
Martha Psyko- El Choclo
Glatten Electro-Tango (den man hier auch auslassen kann) in Reinform bietet der Softcore Express, der aber der Vollständigkeit halber dokumentiert sei:
Softcore Express – El Choclo (Electro Version)
Eine wunderschöne, Klavier-basierte Interpretation im Smoth-Jazz-Stil (sehr tanzbar) bietet Ábaco:
Ábaco · El Choclo
Quartango schafft für mich eine perfekte Vereinigung von Klassik & Nuevo und bringt auch noch einen Kickl Piazolla hinein. Schr schön. Aber irgendwo auf dem Weg ist das Herz verloren gegangen. Schade:
Quartango – El Choclo
Update 13.9.2019: Hier noch eine Jazz-ig-verspielte Version von Quadro Nuevo:
Update 9.10.2019:
Das Orquesta El Arranque hat 2002 eine jazzig-verspielte und doch dem Original nahe Version aufgenommen:
Quinteto Ángel
Beltango
Update: 24.7.2021: Tango de Minas – El Choclo
Kommen wir nun zum persönlichen Teil der Maiskolben-Geschichte: Wie ich auf dieses Lied stieß. Nicht beim Tango tanzen (was ich mit Begeisterung tue), wie Menschen, die mich kennen, vielleicht vermuten könnten. Nein, dieses inzwischen rund 115 Jahre alte Lied (so alt, das selbst unsere Urgroßelternbei seine Komposition noch Kinder waren) fand ich a) durch meine Begeisterung für Dr. House (aka Hugh Laurie) UND b) über ein ungarisches Streicherinnen-Quartett (Destiny Quartet), auf das ich mehr oder weniger zufällig auf YouTube gestoßen bin.
Hugh Laurie ist ein begeisterter Blues Musiker, der mehrere Instrumente spielt. Erwähnte ich, dass Blues eine meiner Leidenschaften ist? Und neben zahlreichden Blues Songs kursiert von ihm auch eine Version von „Kiss of Fire“ die er nicht nur in einem Blues-Tango Stil spielt, sondern dessen Gesang er mit Gaby Moreno im englisch/spanischen Duett bestreitet (so unglaublich, das ich den Song sofort in meine Liste der besten Male/Female Duette aufgenommen habe):
Hugh Laurie Ft. Gaby Moreno – Kiss of fire
Ungefähr zeitgleichbin ich auf diese (rein instrumentale) Tango Interpreation des Destiny Quartet – vier Steicherinnen und ein männliches Rythmus-Lächeln- das mich nicht nur visuell (dieser Maiskolben!), sondern auch musikalisch umgehauen hat:
Destiny Quartet- El Choclo
Für mich persönllich die beste und coolste Version von „El Choclo“.
Was ich (anders als ihr mit der ganzen Vorgeschichte) nicht gemerkt habe, ist das es sich dabei eigentlich um das gleiche Lied handelt. Manchmal hab ich halt Tango gehört, und machmal Blues. Und die Verbindung nicht gemacht. Erst neulich hatte ich die Eingebung, nachdem ich den Klassiker „El Choclo“ auf einer Milonga getanzt hatte, dass beide Lieder etwas mehr als nur den Tango gemeinsam haben.
Dann habe ich angefangen, die verückte Geschchte von El Choclo zu recherchieren.
Es gibt natürlich noch mehr Versionen / Interpretationen von El Choclo, als ich hier vorgestellet habe. Alle, die ich entfernt für relevant halte, habe ich in einer El Choclo Youtube Playlist festgehalten.
Tanz dazu:
- El Choclo – Héctor Varela y su Orquesta Típica – bailando de Kalganova Eleonora & Michael Nadtochi
- El Choclo – Orquesta Sinfonica De Hamhung – bailando de Gabriella y Gianni
- El Choclo – Franco El Gorilla – bailando de Belén y Tupac
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Siehe auch:
Orquesta Romantica Milonguera – Eine Liebesgeschichte in Musik
Tango-Legende Flaco Dany (81) in Darmstadt & Frankfurt
Siehe auch weitere vergleichende Musik-Studien:
- Don’t let me be missunderstood
- Guns of Brixton
- Blue Monday
- Bohemian Rapsodie Discovery
- Somebody that I used to know
- Louie,Louie
- Locomotive Breath
- Rolling in the Deep
- Tsugaru-jamisen
- Der Tetris-Soundtrack
Schöne Seite übrigens um die Historie von Tango-Lieder zu recherchieren: El Recodo
#1 by Klaus-Peter on 19. Februar 2018 - 19:00
Danke, sehr schöne Anregungen dabei.LG
Klaus-Peter