Die Grünen haben ihre „SpitzenkandidatInnen“ für die kommende Bundestagswahl in einer Urwahl bestimmt (allgemein zum Begriff „Urwahl“ und dessen Herkunft).
War das eine gute Idee? Hat das zu einem guten Ergebnis geführt? Was schreibt die Presse darüber?
Warum mich das interessiert? Ich interessiere mich grundsätzlich sehr für Politik. Ich bin kein Mitglied der Grünen. Ich bin ehemaliger Journalist. Und ich muss zugeben: Bis vor kurzem hatte ich dieser grünen Wahl nur sehr wenig Beachtung geschenkt. Vielleicht bin ich darauf aufmerksam geworden, weil ich mich gerade intensiv mit der Wahl des US-Präsidenten (die ich nicht sehr demokratisch fand) beschäftigt habe. Vor allem aber, weil einige deutsche Leitmedien mit sehr schrillen Reaktionen auf das Wahlergebnis reagiert haben (mehr dazu weiter unten).
Spannend ist es allemal, denn es ist das erste Mal, das eine deutsche Partei ihre Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl verbindlich auf diese Weise bestimmt. Bisher wurden in Deutschland die Kandidaten für den Bundestag fast ausschließlich auf Bundesparteitagen bestimmt. Stimmberechtigt auf solchen Parteitagen sind ausschließlich sogenannte „Delegierte“, also Vertreter, die vorher in den Kreisverbänden gewählt und zu den Parteitagen geschickt werden. Eine Ausnahme bildet hier lediglich die Piratenpartei, bei der alle Mitglieder an Parteitagen teilnehmen (und abstimmen) dürfen.
Die SPD hat bereits 1993 mit einer Urwahl experimentiert, als sie für die Wahl des Parteivorsitzenden per Urwahl eine (nicht bindende) Empfehlung an den Bundesparteitag abgeben ließ. In drei Landesverbänden hat die SPD auch ihre Spitzenkandidatenverbindlich per Urwahl wählen lassen (Ingrid Stahmers, Walter Mompers oder Harald Ringstorffs).
Das Delegiertensystem gibt den Kreisverbänden einer Partei besondere Bedeutung. Denn diese bestimmen per Wahl die Delegierten, die sie auf den Parteitagen vertreten sollen. Da oft bekannte Mandats- und Funktionsträger zu Delegierten gewählt werden, hat die Partei-Organisation großen Einfluss.
Weil die Parteiorganisation für einige Parteien eine unkalkulierbare Größe ist, finden im Vorfeld solcher Parteitage oft Absprachen zwischen verschiedenen formalen und informellen Gruppen innerhalb der Partei statt, um sicherzustellen, dass auch die „richtigen“ Kandidaten gewählt werden. Das ist bei der CDU besonders ausgeprägt, etwas weniger bei der SPD und der Linkspartei und am wenigsten bei der FDP und den Grünen (wird aber auch dort versucht). Es gibt Stimmen, die halten solche Absprachen („Kungeleien“) für wenig demokratisch – andererseits spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass sich Menschen vor Wahlen absprechen und Kompromisse schließen. Trotzdem muss man festhalten, dass in einem Delegiertensystem die Ansichten der Parteimitglieder nicht völlig gleichwertig eingehen.
Die Piraten haben einen anderen Ansatz gewählt: Bei ihren Parteitagen dürfen alle Parteimitglieder teilnehmen und abstimmen. Delegierte gibt es nicht. Jedes Mitglied eine Stimme. Damit hat – zumindest theoretisch – jedes Mitglied gleichermaßen die Möglichkeit solche Entscheidungen mit zu bestimmen. Das hat Vorteile, aber auch Nachteile. Denn zu allen Parteitagen zu reisen erfordert schon etwas Zeit und Geld. Und Piraten in Regionen in der Nähe des Parteitagsortes haben es natürlich leichter und reisen fast immer in größerer Zahl an, als Piraten aus weiter entfernt gelegenen Regionen.
Organisatorisch ist das natürlich auch nur möglich, weil die Piratenpartei noch eine relativ kleine Partei ist. Noch kriegt man die üblicherweise anreisenden Mitglieder in eine Halle. Sollte die Partei jedoch weiter so wachsen wie bisher, wird das schnell problematisch. Erkannt wurde das Problem dort natürlich schon. Bereits jetzt wird das gesamten Parteitagsgeschehen per Video ins Netz übertragen. Abstimmen geht so natürlich nicht. Die Piraten im Saarland haben auch schon mit einem „virtuellen Parteitag“ experimentiert – der Parteitag fand gleichzeitig an zwei Orten statt, die per Videoleinwand verbunden waren.
Ob das Prinzip der Piraten nun besser und / oder demokratischer ist als das Delegiertensystem, kann man sicher kontrovers diskutieren. Ich habe da noch keine abschließende Meinung zu. Dass es mal eine Partei anders macht, ist jedenfalls eine Bereicherung für die Demokratie.
Besser finde ich – für die Bestimmung der Spitzenkandidaten – auf jeden Fall die Urwahl, so wie es die Grünen dieses Jahr gemacht haben. Eine gesamte Besetzung der Liste auf diese Weise ist dagegen wohl weniger sinnvoll. Das würde unbekanntere Gesichter deutlich benachteiligen, die auf einem Parteitag wenigstens die Chance haben, sich persönlich allen Stimmberechtigten vorzustellen.
1. Fazit: Das Verfahren Urwahl ist ein gutes, sehr demokratisches Wahlsystem. Es ist aber nicht für alle Zwecke einsetzbar.
Bei der Grünen Urwahl sind insgesamt 15 KandidatInnen angetreten (mehr zum Verfahren). Vier davon kannte ich auch als Nicht-Mitglied bereits vorher. Diese vier KandidatInnen sind auch die einzigen, die auf Stimmenanteile größer als 3% gekommen. Vier weitere erreichten immerhin zwischen 3% und 1% der Stimmen, die restlichen sieben blieben unter 0,5%. Die Wahlbeteiligung lag bei 61,73 %.
Natürlich ist es kaum denkbar, dass sich das Meinungsspektrum der Grünen so sehr auf vier Personen konzentriert. Da es jedoch um die Wahl der SpitzenkandidatInnen ging, ist anzunehmen, dass das Kriterium der „Wählbarkeit“ bei der Entscheidung eine wichtige Rolle gespielt hat.
Die in meinen Augen überraschend niedrige Wahlbeteiligung hat wohl weniger mit den Grünen und dieser Wahl zu tun, sondern mehr damit, dass die Menschen in Deutschland satt und bequem geworden sind. Die Spanne zwischen einzelnen US-WählerInnen, die bis zu 5 Stunden in Schlangen anstehen, um ihre Stimme abgeben zu können und jenen, denen eine einfache Briefwahl (zu der sie rund 20 Tage Zeit hatten) zu aufwändig ist (und die es in den USA genauso gibt), ist riesig. Bedauerlich, aber das ist auch ein Aspekt der Freiheit: Man darf sich dafür entscheiden, dass es einem egal ist.
2. Fazit: Die Mitglieder der Grünen sind mit ihrem Spitzenpersonal insgesamt zufrieden – die Zahl der KandidatInnen und auch die sehr differenzierte Stimmabgabe zeugt aber auch von einer lebendigen demokratischen Kultur in der Partei.
Das Ergebnis wurde von der Presse als Sensation gehypt: „Baff. Bumm. Sensation.“ (SZ), „erschüttert die Parteiführung“ (Zeit) , „Triumph einer Ungeliebten“ (Spiegel) – um nur ein paar prominente Beispiele zu nennen.
War es aber eigentlich gar nicht. Es war eine Wahl. Wenn die Überraschung der Presse etwas zeigt, dann nur, wie wenig Ahnung die Vorkauer aus den Redaktionen wirklich darüber haben, wie die grünen Mitglieder ticken und wie wenig sich die grünen Mitglieder von den Prognosen und Präferenzen der Presse beeindrucken lassen. Nur weil jemand von der Presse hochgelobt (oder zerrissen) wird, wird er / sie noch lange nicht von der grünen Basis (nicht) gewählt. Das macht den Charakter von echten Wahlen aus: Dass sie sich nicht vorhersagen / herbei schreiben lassen.
3. Fazit: Die grünen Mitglieder lassen von der Presse nicht diktieren, wen sie wählen sollen. Das ist gut. Für die Demokratie. Die Presse sollte sich dagegen mit Meinungen mehr zurückhalten und mehr informieren statt zu spekulieren (obwohl letzteres natürlich viel einfacher ist).
Auch die Reaktionen der Presse auf das Ergebnis der Urwahl waren beschämend. Da wurde behauptet, Claudia Roth sei „düpiert“ (SZ), der Spiegel faselt (sinngemäß) vom Aufstand gegen die „Übermutter“ und behauptet, die Basisgrünen seien „erbarmungslos“. Die Zeit phantasiert, die Machtstrukturen in der Partei seien „durcheinanderwirbelt“ worden.
Welch ein Unsinn! Die Mitglieder der Grünen haben darüber abgestimmt, wer die SpitzenkandidatInnen bei der Bundestagswahl 2013 werden – nicht mehr. Sie haben ihre Meinung zu dieser einen Frage gesagt. Nicht mehr. Natürlich gibt es autoritäre Parteien, in denen die Nicht-Wahl eines Parteivorsitzenden zum Spitzenkandidaten ein Misstrauensvotum ist – weil ein natürlicher Anspruch dieser Person auf den Posten vermutet wird. Demokratisch ist das nicht und wenn Journalisten sowas verbreiten, dann zeigt das, dass ihr Denken mehr von Niccolò Machiavelli als von Jean-Jacques Rousseau geprägt ist. Wer weiß zum Beispiel, wie viele Grüne nicht für Claudia Roth gestimmt haben, weil sie wollten, dass sie weiter Parteivorsitzende bleibt? Trotzdem wird von der Presse ihr Rücktritt herbeigeredet. Zum Glück hat sie sich – nach massiver Unterstützung von innerhalb und außerhalb der Partei – dazu entschieden, am kommenden Wochenende wieder als Parteivorsitzende zu kandidieren. Erst dann wird darüber abgestimmt, ob die Grünen sie weiter als Parteivorsitzende haben wollen. Und selbst wenn jemand anderes gewählt wird: Das bedeutet nur, dass die Grünen eine andere Person für besser geeignet halten.
4. Fazit: Es ist gut, wenn sich in der Demokratie viele Menschen zur Wahl stellen, denn nur so können die WählerInnen wirklich auswählen. Jemand, der am Ende nicht gewählt ist, ist dadurch in keinster Weise beschädigt und es ist ihm / ihr auch kein Misstrauen ausgedrückt worden (egal wieviel Prozente er /sie bekam). JournalistInnen, die anderes schreiben, schaden der Demokratie.
Was bedeutet nun diese Wahl für die Zukunft der Grünen? Glaubt man dem Spiegel, haben die Grünen nun ihr „wahres Gesicht“ gezeigt: „die neue Bürgerlichkeit„. Sie stutzen? So gings mir auch. Das ausgerechnet ein Jürgen Trittin (mit mehr als 73%!) gewählt wurde, wird als Beleg für Bürgerlichkeit benutzt? Jener Jürgen Trittin, der aus den K-Gruppen kam und den das Handelsblatt noch kurz vor der Wahl als „wenig unternehmerfreundlich“ einstufte? Auch wenn Trittin in den letzten Jahren öfter mit Anzug und Krawatte in der Öffentlichkeit zu sehen ist: Autsch! Da passt irgendwas irgendwie nicht.
Für die Süddeutsche Zeitung dagegen ist das Wahlergebnis ein klarer „Schwenk nach links“ – also genau in die entgegengesetzte Richtung. Aber passt das besser? Immerhin waren sowohl Trittin als auch Göring-Eckardt maßgeblich an der letzten Rot-Grünen Koalition beteiligt und nur weil sie jetzt die Agenda 2010 nicht (mehr) für eine tolle Sache halten, ist das noch lange kein Schwenk nach links. Zumal sie da in der Parteienlandschaft keineswegs alleine stehen – auch in der SPD (und in der Bevölkerung) sind viele längst davon abgerückt.
Einerseits könnte man sagen: Die Grünen haben ihre bewährten Kräfte bestätigt – andererseits zeichnen sich gerade diese bewährten Führungskräfte seit vielen Jahren dadurch aus, dass sie sich und ihre Partei kontinuierlich weiterentwickelt haben. Und nicht banal nach rechts oder links. Sondern von 5 % auf 14% der WählerInnenstimmen. Eine Partei, in der „links“ und „Bürgerlich“ kein grundsätzlicher Widerspruch mehr ist. Eine Partei, in der „linke“ und „bürgerliche“ Politiker vielleicht nicht immer das selbe Ziel verfolgen, aber trotzdem zusammen an der Lösung von Problemen arbeiten.
5.Fazit: Journalisten und Kommentatoren, die politische Entwicklungen immer noch nach Kriterien wie „bürgerlich“ oder „links“ bewerten, haben die politische Entwicklung der mindestens letzten 5 Jahre verschlafen und bediene Ressentiments, statt zu informieren. Das ist ungefähr so kompetent, wie jene US-Amerikaner, die Barack Obama für einen Kommunisten halten.
Es ist erstaunlich, ja geradezu unheimlich, wie vergleichsweise reibungslos die Grüne Spitze nun schon seit vielen Jahren und in immer neuen Konstellationen zusammenarbeitet. In einer Zeit, in der die CDU Highlander spielt, die SPD reihenweise Menschen (und vor allem Frauen) mit Potential zerschlissen hat (Beispiele: Simonis, Ypsilanti, Lafontaine, Vogt, …) und die Linke sich im Flügelstreit systematisch selbst zerlegt. Denn trotz des pfleglichen und respektvollen Umgangs miteinander werden bei den Grünen politische Themen intensiv und kontrovers diskutiert. Dennoch sollten die Grünen schauen, dass sie auf den weiteren Listenplätzen zur Bundestagswahl ausreichend junge KandidatInnen unterbringen und anlernen. Denn eines Tages werden die bisherigen ProtagonistInnen aufhören. Noch aber machen die Grünen alles richtig und es ist abzusehen, dass die WählerInnen das auch bei der Bundestagswahl honorieren werden.
Da können die anderen Parteien (inklusiv der Piraten) noch einiges lernen.
Auch die Presse könnte aus dieser Episode einiges von den Grünen lernen. Nämlich, dass in der Demokratie Inhalte und Ziele wichtiger sind als persönliche Ambitionen. Denn die ganzen Artikel, die ich bisher über die Urwahl gelesen habe, haben – außer in paar pauschalen, oberflächlichen Aussagen und Typisierungen – erstaunlich wenig Informationen dazu enthalten, für welche Politik die einzelnen KandidatInnen eigentlich stehen, welche Themen ihnen wichtig sind und welche Lösungsansätze sie dabei vertreten. So wird Politik von der Presse auf eine Frage von Sympathie und Antipathie reduziert. Dafür brauchen wir aber keine teuer bezahlten Journalisten, das können unbezahlte Blogger auch (und oft besser).
Hier die Links zu den oben zitierten, dort aber – mangels Qualität – nicht verlinkten Artikeln. Für alle, die es sich trotzdem antun wollen:
Süddeutsche: Baff. Bumm. Sensation.
Zeit: Die Grünen ticken anders
Spiegel:Die Grünen zeigen ihr wahres Gesicht
Süddeutsche: Die grüne Christin
Spiegel: Triumph einer Ungeliebten