Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Dieser Tag markiert nicht nur das Ende unvorstellbaren Leids, sondern mahnt uns auch, niemals zu vergessen, was geschah.
Doch die Grauen des Holocausts begannen nicht erst in Auschwitz. Sie nahmen oft an Orten ihren Anfang, die wir heute als unscheinbar oder alltäglich wahrnehmen – so auch hier in Darmstadt, am ehemaligen Güterbahnhof. Das Denkzeichen Güterbahnhof erinnert an die Deportationen von tausenden Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie anderen Verfolgten.
In der Zeit des Nationalsozialismus diente der Güterbahnhof als Sammel- und Ausgangspunkt für die Deportationen. Von hier aus wurden Menschen in Viehwaggons gezwungen, auf eine Reise ins Ungewisse – oft mit dem Ziel Auschwitz oder andere Vernichtungslager. Familien wurden auseinandergerissen, ihrer Würde beraubt und in vielen Fällen ermordet. All dies geschah hier, mitten in Darmstadt, vor den Augen der Gesellschaft. Siehe auch meinen Beitrag 1944: Wurden doitsche Täter zu deutschen Opfern?
Immer wieder wird das Denkzeichen Güterbahnhof vandaliert und zerstört (siehe oben) – und das wird als schlimmer Skandal diskutiert. Und das Denkmal dann wieder hergerichtet. Für mich ist das allerdings eher ein Prozess poltischer, interaktiver Kunst. Denn das Denkzeichen selbst ist ein totes Objekt (abgesehen von Beträgen an Tagen wie heute) und steht an einem Ort, an dem es einfach übersehen werden kann. Erst durch den Akt des Vandalismus findet eine Auseinandersetzung mit dem Denkzeichen und dessen Thema statt – und zwar gleich gleich dreifach:
- Der/diejenige der/die Vandalismus begeht, setzt sich damit auseinander – entweder, weil er/sie sich aus politischen / weltanschaulichen Gründen gegen die Erinnerung an den Holocaust wendet, oder weil hier Frust oder Aggression zu einem Akt der Gewalt führen, der gleichgültig gegenüber dem Zweck des Denkzeichens ist. Und auch wenn das (vorläufige) Ergebnis der Auseinandersetzung (Vandalismus) nicht das gesellschaftlich gewünschte (Erinnerung und Mahnung) ist, so findet doch eine Auseinandersetzung statt. Was ich für vorziehenswert gegenüber Gleichgültigkeit oder Unwissenheit halte (mit der vermutlich 50% der Menschen in Darmstadt diesem Thema gegenüberstehen). Denn nur wo Auseinandersetzung statt findet, kann Veränderung stattfinden.
- Ein vandaliertes Denkzeichen dokumentiert anschaulich das Vorhandensein des Faschismus in unserer Gesellschaft und seine aggressive Haltung und aktuelle Bedrohung unserer demokratischen Ordnung. Es zeigt, dass es – eben auch in Darmstadt – Menschen gibt, die vergessen (machen) wollen, was damals geschah. Und bereit sind, ähnliches wieder zu tun. Wir wissen, dass natürlich, aber viele möchten das ignorieren (und tun es). Ein vandaliertes Denkzeichen (und die Öffentlichkeit und Diskussion darüber) versperrt diesen Weg. Der Faschismus in den Köpfen wurde sichbar gemacht. Manifestiert. Ein neues, anderes, aktuelleres Denkzeichen ist entstanden. Und sofern die Täter:innen die Öffentlichkeit und die Diskussion mitbekommen, kann das einen Veränderungsprozess auslösen oder vorantreiben1
- Die Wiederherstellung oder Reperatur des Denkzeichens wiederum kann ein Akt (kollektiven) antifaschistischen Wiederstandes – besonders wenn dieses z.B. durch einer Spendensammlung finanziert und vielleicht als gemeinsamer Arbeitseinsatz und mit einer Wiedereröffnungsfeier realisiert wird2 Die Wiederherstellung oder Reperatur des Denkzeichens als antifaschistischer Akt stellt sich konstruktiv gegen die zerstörerische und gewaltsame Kultur des Faschismus.
Mahnung und Erinnerung kann und darf nur der erste Schritt im Kampf gegen den Faschismus sein. Denkmäler und Gedenktage können auch dazu instrumentalisiert werden, sich eben nicht um das Thema und notwendige Konsequenzen kümmern zu müssen, sondern sich auf der Gedenkkultur auszuruhen, wie ich in Georg Büchner per Denkmal entsorgen? bereits ausführte. Der 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sollte uns ins Bewusstsein rufen, dass es wichtig ist, jeden Tag und an jedem Ort entschieden gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form von Hass einzutreten. Nur durch Handeln können wir verhindern, dass sich solche Schrecken jemals wiederholen.
Für weitere Infos siehe:
- Landeszentrale für politische Bildung BW: Denktag 27. Januar 1945
- Gedenkort Güterbahnhof Darmstadt
- Amadeu Antonio Stiftung
- Gesicht Zeigen!
- Endstation Rechts
- Hajo Funke und die Verschwörung der V-Nazis
- Bembel with Nazis
- An Sibin Eigentümer wegen Hitlergruss vor Gericht
- Horizont erweitern: Drei Tage in Südpolen – Gastbeitrag von Felix M. Benneckenstein
- „hätte es keine nazis gegeben wärst du heute tot (wäre besser)“
- Wobei ein solcher Prozess in der Regel nicht durch Verurteilung und Beschimpfung (wozu wir in deutschen Kultur sehr stark neigen) befördert wird, sondern durch sachliche, inhaltliche Argumentation. Die psychologische Forschung zeigt eindrücklich, dass vorhandene Einstellungen durch Verurteilung und Beschimpfung nur verstärkt werden.[↩zurück ↩]
- Das (kontraproduktive) Gegenteil wäre ein anonymer Verwaltungsbeamter, der ohne Beteiligung der Öffentlichkeit einen Handwerker beauftragt und das Ganze aus einem Budget finanziert wird, wo das Geld anderen Kulturinitiativen dann fehlt.[↩zurück ↩]