RealitätVariante 1:

Irgendwann im frühen Jugendalter – wenn man halt üblicherweise anfängt, solche Fragen nach dem Sinn von Ganzen zu stellen – habe ich mal folgende Überlegung angestellt:

Was, wenn es das alles hier gar nicht gibt? Wenn ich in Wirklichkeit im Koma (oder so) liege und mein Hirn sich all das, was ich scheinbar tue, erlebt, sehe, rieche, schmecke, spüre…  nur ausdenkt? Wenn auch all die Leute, mit denen ich scheinbar interagiere, nur ein Produkt meiner (lebhaften) Fantasie sind?

Ich habe schnell festgestellt, dass ich keine Möglichkeit habe, das zu überprüfen. Denn alles was ich tue oder wahrnehme wird ja von meinem Gehirn kontrolliert. Wenn ich mich ins Bein kneife, aktiviert mein Gehirn die entsprechenden Muskeln. Der Widerstand, den meine Finger spüren, wird durch die Nervenbahnen an mein Gehirn übermittelt und als Kneifen interpretiert. Und der Schmerz, den scheinbar die Nerven in meinem Bein melden, wird erst vom Hirn in „Schmerz“ übersetzt. Vorher sind es nur elektrische Impulse. Mein Bein kennt keinen Schmerz.

Angesicht der Unüberprüfbarkeit der Existenz dieser Realität, habe ich damals (wissenschaftlich sauber) beschlossen, die Existenz dessen, was ich für die Realität halte, als Arbeitshypothese zu akzeptieren. Doch die Faszination dieser Idee hat mich nie verlassen und bin ihr viel später mehrfach wieder begegnet, u.a. in Filme wie „A Beautiful Mind“ und „Fight Club“, die ihre Handlung darauf aufbauen, das unser Hirn wirklich in der Lage ist, komplexe Realitäten und Beziehungen völlig überzeugend zu erschaffen.

 

Variante 2:

Eine Variante davon ist, dass nicht unser Hirn die Realität erschafft, sondern eine Maschine und ich bin nur ein von der Maschine erschaffenes Bewusstsein, das sich aber im virtuell geschaffenen Raum der Maschine bewegt und diesen Raum für die Realität hält. Es gibt nicht mal mehr einen biologischen Körper. Genial verarbeitet im Film „The Thirteens Floor“.

Auch hier habe ich keine Möglichkeit, selbst die Realität meiner Existenz zu überprüfen.

 

Variante 3:

Der Film „Die Matrix“ hat mir dann eine weitere Variante vorgestellt, die nicht weniger Plausibel ist: Der biologische Körper existiert zwar, jedoch wird die Information über die Nervenbahnen von außen (durch ein Computersystem) eingespielt. Alles was wir glauben zu sehen, hören, fühlen, schmecken, usw. sind lediglich Computer-generierte Reize. Auch in diesem Fall hätten wir keinerlei Möglichkeit selbst Klarheit über unseren Zustand zu erlangen (die im Film vermittelte Idee, man könne sich über eine Pille aus der Situation befreien, ist ein Bruch mit dieser ansonsten schlüssigen Logik).

 

Variante 4:

Und dann wäre da noch die Sache mit den Mäusen und Magrathea. Aber lassen wir das … – das würde nun wirklich zu weit führen.

 


 

Das Faszinierende an allen drei Varianten ist, das mein Hirn, nein (denn selbst dessen Existenz kann ja nicht als gesichert gelten), dass also mein Bewusstsein ein vollständig Informations-abhängiges System ist. Alles was ich sicher weiß, ist, dass es dieses „ich“ geben muss, das sich die Gedanken macht (ich denke, also bin ich). Aber ob ich diese Worte wirklich schreibe, ob du sie wirklich liest (wie meine Zugriffsstatistik morgen behaupten wird) oder ob das alles gar nicht real ist, sondern nur eine von elektrischen Reizen geschaffene Vorstellung – ich habe keinerlei Möglichkeit, das zu überprüfen.

Du wirst jetzt vielleicht einwenden, dass du dir doch aber sicher bist, dass du das liest und das es dich gibt. Falls das so ist, dann kannst du dir sicher sein, das es dich gibt. Abe du kannst dir nicht sicher sein, ob es mich wirklich gibt. Ich (und dieser Artikel) könnte die Illusion sein, die dein Bewusstsein schafft / für dein Bewusstsein geschaffen wird.

Und selbst wenn du das zu mir persönlich sagst, kann ich mir nicht sicher sein, ob du nicht und so weiter….

Falls mir jetzt einer von euch Realisten (eine meiner nervigsten Illusionen ;- ) überhaupt noch bis hierher gefolgt ist, wird er/sie spätestens hier genervt einwerfen: „Und was soll das praktisch bedeuten?“

Und ich werde antworten: „Gar nichts. Denn solange wir keine gesicherten Informationen haben, kann alles eine Illusion sein, aber auch alles real sein oder jedes denkbare und logisch in sich geschlossene Zwischending. Und daher ist es praktisch sinnvoll, alle meine Handlungen und Entscheidungen auf den mir vorliegenden Informationen basieren zu lassen.“

Warum ich dann überhaupt darüber nachdenke und hier sogar darüber schreibe? Erstens weil es Spaß macht und durchaus befreiend ist, zu erkennen, dass das was ich für „die Realität“ halte, zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit nahe an der Realität ist, aber eben keineswegs sicher. Und zweitens, weil ich Anfang November über einen Artikel gestolpert bin, der solche Überlegungen immerhin auf die wissenschaftliche Ebene hebt. Und trotzdem zu kurz springt, weil er das Thema nicht konsequent zu Ende denkt:

The Case Against Reality

A professor of cognitive science argues that the world is nothing like the one we experience through our senses.

Donald D. Hoffman, Professor für „cognitive science“ (unzureichend übersetzt: „Hirnforschung“)  an der University of California hat sich mit Wahrnehmung, künstlicher Intelligenz, evolutionäre Spieltheorie, Quantenphysik und dem Hirn beschäftigt. Und dabei zwei gegenläufige Entwicklungen beobachtet: Während die Hirnforschung verzweifelt damit kämpft, anzufangen zu verstehen, wie sich in der grauen Masse in unserem Kopf überhaupt so etwas wie ein Bewusstsein formen kann, stellen Physiker fest, dass je genauer sie die Welt um uns herum analysieren, desto weniger kann als objektiv gesichert gelten und alle scheint davon abzuhängen, ob und wie wir hinschauen – was genau zurück zu diesem für die Hirnforscher so völlig mysteriösen „Bewusstsein“ führt.

So ist Hoffmann ist zu einer dramatischen These gekommen:

The world presented to us by our perceptions is nothing like reality. What’s more, he says, we have evolution itself to thank for this magnificent illusion, as it maximizes evolutionary fitness by driving truth to extinction.

Im Kern argumentiert Hoffmann, dass unser Hirn „geistige Repräsentationen“ der Realität schafft, um uns auf die für unser Überleben relevanten Aspekte der Realität zu fokussieren. Er nennt das „akzeptable Repräsentationen“, die unser Überleben (als Spezies) sichern, aber von der Realität („Truth“) abweichen. Es ist ein faszinierendes Interview (mit weiterführenden Links) und Hoffmann beschreibt nachvollziehbar, wie er zu seiner These gekommen ist. Ich will das hier aber nicht vertiefen und schon gar nicht seine These verteidigen, sondern mich auf den Punkt konzentrieren, wo ich einen logischen Bruch sehe – und der Interviewer leider verpasst, nachzufragen:

Wenn – wie Hoffmann behauptet – all unsere Wahrnehmungen lediglich geistige Repräsentationen einer ganz anderen Realität sind, dann gilt das auch für die Forschungen und Erkenntnisse der Hirnforscher, der Mathematiker und der Quantenphysiker. Es gibt keinen Anlass zu vermuten, dass sie nun plötzlich bis zur Realität durchgestoßen sind. Seiner eigenen These zufolge folgen natürlich auch diese Wissenschaftler einem evolutionären Programm, das „akzeptable Repräsentationen“ schafft, die ihrer Spezies (Wissenschaftler) das Überleben sichert. Realität erscheint ihnen als das, was sie gelernt haben, zu sehen.

Damit zieht er seiner eigene Argumentation selbst den Boden unter den Füßen weg. Nicht, das seine These damit widerlegt ist – sie ist jedoch nicht mehr oder weniger wahrscheinlich als andere, gegenteilige Thesen. Es könnte genauso sein, dass die Hirne der Quantenphysiker ihnen ihre Ergebnisse nur vorspielen. Oder dass Hoffmanns Hirn ihm die Existenz der Quantenphysiker nur vorgaukelt. Oder dass mein Hirn mir die Existenz Hoffmanns nur vorgaukelt. Oder ein Computer mir die Existenz meines Hirns nur vorgaukelt.

Womit wir wieder am Anfang wären.

Und damit genug Brainfuck für jetzt. Der November ist ja längst vorbei.

Wer trotzdem weiter lesen will, bitte schön:

P.S.: Egal wie wahrscheinlich oder real ihr da draußen auch seid: Es macht Spaß mit euch. Meistens. 😉

 

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Siehe auch:

Linksammlung; Spannendes aus der Wissenschaft

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