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Am 19. März 2017 steht in Darmstadt nach 6 Jahren regulärer Amtsperiode die Wahl des Oberbürgermeisters an (Bekanntmachung und Aufforderung zur Einreichung von Wahlvorschlägen).
Für die Grünen tritt dabei der Amtsinhaber Jochen Partsch wieder an. Der SPD Vorstand hat beschlossen Michael Siebel dafür zu nominieren – seine Kandidatur muss jedoch noch von einem Parteitag im November beschlossen werden. Soweit, so normal. Der Vorstand der CDU Darmstadt hat nun aber beschlossen, keinen eigenen Kandidaten und keine Kandidatin aufzustellen. Eine mutige, weil unkonventionelle Entscheidung. Seither tobt die Debatte, ob das so richtig und klug ist. Auf zwei Ebenen:
- Einige CDU Mitglieder sind unzufrieden damit und kritisieren, dass der Vorstand diese Entscheidung getroffen hat, ohne sich vorher dafür ein Mandat der Mitglieder zu holen.
- In den Medien und der Bürgerschaft wird diskutiert, ob das klug ist und vielleicht schädlich sein könnte.
Ein paar Gedanken dazu unter Würdigung der jeweiligen Argumente:
- Zum internen CDU Prozess: Es ist in der CDU nichts ungewöhliches, dass weitreichende und grundsätzliche Entscheidungen von Vorstand gefasst werden. Die CDU ist immer eine Honoratioren-Partei gewesen, in der die Führung die Richtung vorgibt und die Mitglieder folgen. Basisdemokratie ist nicht ihr Markenzeichen. Und das funktioniert, solange im 21-köpfigen Vorstand die Mitglieder hinreichend repräsentiert sind. Es wird sich zeigen, ob die Kritik von ein paar Außenseitern kommt, oder ein allgemeines Unwohlsein repräsentiert. Grundsätzlich kann ein Parteitag die Entscheidung natürlich kippen. Noch ist genug Zeit dafür. Ein Rebell könnte sich sogar selbst als Kandidat in Stellung bringen – und mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als über eine normale Kandidatur. Ein anderes Zeichen, dass der Vorstand hier nicht den richtigen Nerv getroffen hätte, wäre, wenn ein CDU Mitglied oder einE von CDU Mitgliedern unterstützteR KandidatIn im März antritt. Aber das alles wäre keine Katastrophe, sondern völlig normale Demokratie.
- Profitiert die AfD? In einen Echo-Interview hat Björn Egner (wiss. Mitarbeiter der TU Darmstadt, FB Politikwissenschaft) eine gemischte Bewertung abgegeben, aber die Befürchtung geäußert, „die AfD könnte stramme CDU-Wähler abfischen“ – ein Nebenaspekt, den das Echo dann leider sogar zur Überschrift aufwertet. Jörg Heléne widerspricht dem in seinem Blog entschieden. Ich selbst denke, jedeR WählerIn ist für seine eigene Wahlentscheidung verantwortlich und keiner kann der CDU die Verantwortung, dafür geben, wenn dumme Menschen wirklich glauben, von der AfD eine konservative Politik zu bekommen. Oder damit wirklich „Protest“ ausdrücken zu können. Mehr dazu unten.
- Das Profil der CDU: Braucht die CDU Darmstadt einen OB Kandidaten für ihr Profil? Oder braucht Darmstadts CDU eine (neues) Profil? Egner meint, er könne bei der CDU Darmstadt „kein eigenständiges schwarzes Profil“ erkennen. Jörg Heléne äußert Verständnis für den strategischen Konflikt der CDU. Seine Empfehlung:
Einzig halbwegs sinnvolle Möglichkeit wäre gewesen, einen relativ jungen, unbekannten Kandidaten aufzustellen, um ihn für das übernächste Mal bei den Bürgern bekannt zu machen. Dazu hätte man sich innerparteilich aber auf jemanden einigen müssen, mit dem alle Flügel über viele Jahre hinweg zufrieden sind. Das ist an sich schon schwierig, die Erfolgsaussichten allenfalls mittelmäßig.
Ich sehe im Gegensatz zu Egner durchaus ein eigenständiges Profil der Darmstädter CDU. Das ist das einer Partei, die diszipliniert und Lösungs-orientiert Sacharbeit leistet und aktiv eine Politik der kommunalen Haushaltssanierung ohne soziale Härten voran treibt. Eigentlich genau dass, was man von einer konservativen Partei (in der ursprünglichen Bedeutung) erwarten kann. Für mich ist die Darmstädter CDU fast wählbar geworden. Fast – wenn nicht der Ausrutscher von Herrn Reißer ein überkommenes Obrigkeitsdenken offen gelegt hätte, bei dem der Darmstädter CDU immer noch Befehl und Gehorsam wichtiger sind als die Prinzipien des Rechtsstaates.
Trotzdem befindet sich die Darmstädter CDU für mich auf einem guten Weg, einen sachlichen Konservativismus in die Moderne zu transformieren. Dass sie dabei auf Theaterdonner und machtpolitische Spielchen verzichtet, macht sie für mich um so glaubwürdiger. Da ist sie der Darmstädter SPD um einige Schritte voraus.
Dennoch muss sie noch lernen, ihre pragmatische und sachorientierte Herangehensweise auch als das, was sie ist, darzustellen („verkaufen“). Als eine Haltung, die in der post-ideologischen Neuzeit angekommen ist und auf stetige, kontinuierliche Verbesserungen auf Basis des erreichten Wohlstandsniveaus setzt. Im Wahlkampf zur Kommunalwahl ist ihr das nicht gelungen. Möglich (und sinnvoll) ist es aber.
Das führt auch zu einer der Paradoxien der post-ideologischen Demokratie: Oft sind es die gleichen Leute, die lauthals die Macht- und Pöstchenkämpfe kritisieren und von den Parteien Sach- und Lösungsorientierung fordern, aber dann unzufrieden sind, wenn eine Partei das dann umsetzt. Weil sie ohne die natürlich viel wahrnehmbareren und unterhaltsameren Kämpfe plötzlich kein „Profil“ mehr erkennen können. Das auch ein Politikwissenschaftler wie Egner so oberflächlich analysiert, ist allerdings schade.
Die Darmstädter DurchschnittswählerInnen sind jedoch durchaus in der Lage, das zu erkennen. Auch Jochen Partsch hatte, bevor er zum OB gewählt wurde, als kleiner Partner in der Koalition mit der SPD nicht unbedingt ein scharfes Profil. Dennoch haben die DarmstädterInnen seine sachliche Haltung und Politik belohnt. Und das bei der diesjährigen Kommunalwahl eindrucksvoll bestätigt, indem sie die Grünen wieder zur stärksten Partei gemacht haben.
Vielleicht ist das die gute Botschaft für die Darmstädter CDU: Die BürgerInnen der Stadt können konstruktive Sachpolitik durchaus erkennen und aus dem kleinen Koalitionspartner auch plötzlich den Großen machen. Und wenn man gerade keinen OB-Kandidaten hat, der es besser machen könnte als der Amtsinhaber, dann muss man auch nicht nur aus Prinzip einen Zählkandidaten aufstellen (und damit vielleicht sogar verbrennen). Und im Gegensatz zu Egners Einschätzung („könnte die CDU auch bei den nächsten OB-Wahlen niemanden mehr aufstellen, weil das widersprüchlich aussieht.“) kann sich eine solche Einschätzung durchaus über die Zeit verändern. Weil Partsch nachlassen könnte und/oder weil eigenes Personal (hoffentlich) wächst und lernt.
Noch einige kritische Worte zu Jörg Helénes Beitrag – er schreibt darin:
Der AfD nützt vor allem, dass Politik wie Politologie und Medien die letzten 20-30 Jahre grundsätzlich darin versagt haben, einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Verständnis für die Funktionsweisen einer Demokratie zu vermitteln.
Solche Äußerungen tun mir in der Seele weh. Weil es die AfD-WählerInnen aus der Verantwortung nimmt und sie zu unmündigen Bürgern erklärt, die von Staat, Wissenschaft und Medien erst erzogen werden müssen. Das führt genau zu der Haltung, die von AfD bis hin zu Trump zu beobachten ist: Immer sind „Andere“ für die eigenen Fehler verantwortlich – nie man selbst.
Fakt ist jedoch, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung versäumt hat, Verständnis für die Funktionsweisen einer Demokratie zu entwickeln. Wie ich in Politik ist … schreibe:
Leider ist Demokratie kein „Produkt“ bei dem ein Anbieter dafür zuständig ist, uns optimal zu unterhalten. Bei dem wir uns beklagen können, wenn wir unzufrieden oder gelangweilt sind. Im Gegensatz zur Diktatur oder Monarchie. […] In der Demokratie ist die Verantwortung in unsere Hände gelegt. Und wir bekommen die Politiker und die Politik, die wir verdienen. Je weniger wir uns kümmern, desto schlechtere Politiker bekommen wir.
Wer sich aber zurücklehnen und unterhalten lassen will, der wird entweder in der Diktatur landen. Oder halt von einer aktiv demokratisch handelnden Mehrheit marginalisiert. Wer also (und sei es aus Protest) AfD wählt, darf sich nicht wundern, wenn er (mindestens von mir) als Demokratiefeind wahrgenommen und in der konstruktiven Politik übergangen wird.
Doch zurück zur Oberbürgermeisterwahl. In Politik ist … schreibe ich auch:
Eine wichtige Sache in der Demokratie ist die Auswahl. Je mehr Kandidaten wir zur Auswahl haben, desto besser. Denn nur eine Auswahl ermöglicht uns, auch Andere auszuwählen, statt immer über „die Politiker“ zu schimpfen und dann doch die Gleichen zu wählen (oder durch Nichtwählen einfach weitermachen zu lassen). Nur Auswahl ermöglicht uns, auch anderen, frischen Gesichtern eine Chance zu geben. Wenn die bitteren Klagen über „die da oben“ tatsächlich Recht haben, dann kann es ja kaum schlimmer werden. Gebt den Neuen eine Chance, wenn ihr unzufrieden seid! Deshalb bin ich froh über jeden Menschen, der sich bei einer Wahl als KandidatIn anbietet. Weil das die Grundlage für eine parlamentarische Demokratie ist.
Deshalb rufe ich jeden, der glaubt, den Job des Oberbürgermeisters könne man besser machen, als Jochen Partsch das tut, dazu auf, bei der OB Wahl anzutreten oder sich mit anderen DarmstädterInnen zusammen zu schließen und einen geeigneten, besseren Kandidaten oder Kandidatin zu küren. Noch bis 9. Januar 2017 können Einzelbewerber, Gruppen und Parteien den Hut in den Ring werfen.
Ich werde jedenfalls alle KandidatInnen ernsthaft prüfen und mich erst dann entscheiden, wen ich wähle. Und erwäge, wieder so eine KandidatInnen-Befragung zu machen, wie zur Kommunalwahl (vielleicht nicht ganz so ausführlich) – allerdings auf den tatsächlichen Handlungs- und Entscheidungsspielraum des OB beschränkt. Falls jemand Lust hat, daran mitzuwirken, möge er/sie sich melden.
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Siehe auch:
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#1 by Jörg on 22. Oktober 2016 - 11:42
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Solche Äußerungen tun mir in der Seele weh. Weil es die AfD-WählerInnen aus der Verantwortung nimmt und sie zu unmündigen Bürgern erklärt, die von Staat, Wissenschaft und Medien erst erzogen werden müssen.
Ja, der Satz kam allgemein nicht gut an ;-). Wohl weil es an der romantischen Vorstellung von der Demokratie kratzt.
Ich bin nicht der Meinung, dass ich damit die Leute aus der Eigenverantwortung genommen habe. Natürlich entscheidet jeder selbst, wo er sein Kreuzchen macht und ist dann auch für seine Entscheidung verantwortlich. Aber da reden wir über das Verhalten einer Einzelperson. Gesamtgesellschaftlich gilt eine Art Gesetz der großen Zahlen, das besagt, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen die gesellschaftlichen Entscheidungen bestimmen. Die Möglichkeit, dass sich ein Individuum aus simpler Eigenverantwortung heraus anders entscheidet, glättet sich schon bei einer mittleren dreistelligen Zahl von Wahlberechtigten statistisch aus.
Und wie verändern sich dann Wahlergebnisse? Nur durch die gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die Politik hat einen Bildungsauftrag, die Politologie ist die wissenschaftliche Disziplin dazu und die Medien sind die Mittler zwischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Vielleicht könnte man auch noch die Kunst als weiteres Element hinzunehmen, wenn man an die Gegenkultur seinerzeit in den USA denkt, die auch eine gesellschaftliche Veränderung anstieß, die letztendlich bis zu uns nach Europa schwappte. Auch Kunst ist ein Mittler zwischen den gesellschaftlichen Elementen.
Und da beißt sich dann die Katze in den Schwanz, denn so wie du mir vorwirfst, ich würde die AfD-Wähler dadurch ihrer Eigenverantwortung entziehen, entziehst du ja dadurch Politik, Wissenschaft und Medien ihrer Verantwortung, wenn du mangelndes Verständnis für die Funktionsweisen unserer Demokratie zu einer Sache der Eigenverantwortung machst. Das ist so wie statt ein Kind davon abzuhalten, auf die heiße Herdplatte zu greifen, nebendran zu stehen und „Selbst schuld“ zu sagen. Soll Leute geben, die das so machen. Ich würde das Kind davon abhalten, auch wenn ich es dann einer Erfahrung beraube.
Natürlich muss auch eine politische Erziehung folgen. Wir schrecken vor diesem Begriff zurück, weil wir ihn aufgrund schlechter Erfahrungen mit totalitären System mit Indoktrination verwechseln. Aber das ist nicht politische Erziehung. Politische Erziehung ist das Verständlichmachen politischer Funktionsweisen. Und das ist Aufgabe der Gesellschaft, diese Aufgabe in die Eigenverantwortlichkeit abzuschieben, führt zu solch Ausgeburten wie wir es aktuell mit der Szene der sogenannten „Reichsbürger“ beobachten können. Die haben sich in selbstständiger Eigenverantwortung mit unserem System beschäftigt, und das ist dabei rausgekommen. Natürlich sind auch diese Leute als Individuen eigenverantwortlich, aber dass es überhaupt solche Leute gibt, dass sich da eine komplette Szene entwickeln kann, ist die gesellschaftliche Verantwortung.
#2 by Carsten on 23. Oktober 2016 - 14:16
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Ich halte (aus verschiedenen Gründen, die den Rahmen sprengen würden) nicht so viel von dem Begriff „Erziehung“, bevorzuge den Begriff „politische Bildung“. Ich will mal annehmen, dass wir damit trotzdem ungefähr das Gleiche meinen – ich hatte versucht, den Bildungsbegriff hier zu definieren. Lass mich wissen, wenn du mit politischer Erziehung etwas ganz anderes meinst.
Ich würde gern betrachten, ob die von dir genannten Akteure a) den Auftrag b) die nötigen Anreize (Motivation) c) Erfolg damit haben, politische Bildung zu vermitteln. Für a) will ich mir das Grundgesetz ansehen (Annahme: Grundlage der Verfasstheit der Bundesrepublik), für b) will ich schauen, welche Belohnungen und Sanktionen (an Maslow angelehnt) bestehen und für c) will ich anschauen, ob zugängliche Kommunikationswege (Push & Pull) von den Akteuren tatsächlich bedient werden.
Politiker & Parteien
a) Auftrag
Die politische Willensbildung setzt ja eigentlich eine politische (Grund-)Bildung vor raus. Die Väter unseres GG schienen diese allerdings (als naturgegeben?) vorausgesetzt zu haben. Trotzdem könnte man aus Art. 21 eine Mitwirkungsauftrag an der Vermittlung politischer Bildung ableiten. Eine Pflicht oder Verantwortung jedoch nicht, denn das stände im Gegensatz zu Artikel 38.
b) Motivation
I) Belohnung
Monetäre Anreize für Politiker: Einige Politiker sin der Ansicht, dass es ihnen hilft, gewählt zu werden, wenn sie ihren Wählern zu politischer Bildung verhelfen, andere scheinen vom Gegenteil überzeugt. Das Verbreiten von politischer Bildung kann für Politiker sowohl nützlich (Verständnis, Unterstützung) als auch schädlich sein (Kritik, mehr Diskussionen)
Bei vielen gewählten Politikern ist allerdings auch ein Mangel an politischer Bildung festzustellen, was darauf hindeutet, dass politische Bildung an sich kein Erfolgskriterium bei Wahlen oder bei der Durchsetzung von konkreten Vorhaben ist. Politische Bildung macht das Regieren in einer komplexen Welt im Zweifel erst mal schwieriger.
Monetäre Anreize für Parteien: Es gibt massive staatliche Förderungen für Partei-nahe Stiftungen, deren Aufgabe es ist politische Bildung zu betreiben.
II) Sanktionen
Staatliche Sanktionen wären mit Art. 38 grundsätzlich nicht vereinbar.
Persönliche Sanktionen: PolitikerInnen und Parteien – selbst wenn sie richtige Inhalte vertreten – bei Wahlen nicht mehr wählen. Mal einer andern (kleinen) Partei die Chance geben.
c) Erfolge
Push:
Ich beobachte, das die meisten deutschen PolitikerInnen durchaus bemüht sind, selbst oder durch ihre MitarbeiterInnen mehr oder weniger aktiv zur politischen Bildung beizutragen. Es werden (weit über Plakate hinaus) in großer Zahl Druck- und elektronische Materialien erzeugt, die helfen sollen , Informationen zu vermitteln. Die Intensität und Tiefe variiert je nach Partei und Politiker, außerdem gibt es Limitationen hinsichtlich der Finanzen und der dafür verfügbaren Zeit. Das Ansprechen von WählerInnen in der Innenstadt oder gar an der Haustür wird von den meisten Menschen jedoch als aufdringlich und störend empfunden und ist deshalb außer Mode gekommen.
Es muss allerdings festgehalten werden, dass die meisten PolitikerInnen die WählerInnen aktiv nicht mehr erreichen (können).
Pull:
Neben staatlichen Organisationen (Bundestag, die Ministerien, das statistische Bundesamt und die BzfpB) bieten auch die verschiedenen Parteigliederungen einen Vielzahl von Informationen an. Neben öffentlichen (und schlecht besuchten) lokalen Parteiversammlungen bieten viele Politiker auch regelmäßige Sprechstunden an, die ein 1-zu-1 Gespräch erlauben.
Ich würde behaupten, dass zumindest alle Basis-Informationen zur parlamentarischen Demokratie und den wichtigen Themen „at the Fingertipp“ zur Verfügung stehen. Auch die neuen Informationsfreiheits-Gesetze und –Satzungen, die den BürgerInnen den Zugriff auf interne Verwaltungsinformationen ermöglichen, werden vor allem von bereits politisch aktiven Menschen genutzt (was kein Argument gegen sie ist).
Angesichts der Tatsache, dass die Politiker und Parteien weder eine ordentliches Mandat noch eine klare Motivation dafür besitzen, politische Bildung zu betreiben, kann ich das Ausmaß er tatsächlich vorhandenen Informationsangebote nur mit einem „idealistischen Demokratieverständnis“ (Jörg) erklären.
Medien / Presse:
a) Auftrag
Auch hier kann ich aus dem Grundgesetz keinen Auftrag zur politischen Bildung ableiten.
b) Motivation
I) Belohnung
Die Hauptmotivation der meisten Medien in der überwiegend kapitalistisch organisierten Gesellschaft ist die Erwirtschaftung von Gewinnen (meist durch den Verkauf der Aufmerksamkeit von potentiellen Kunden an Firmen). Eine Umsatzrendite von 9% ist hier meist das betriebswirtschaftliche Ziel. Einnahmen aus dem Verkauf sind (abgesehen von Nischenprodukten wie der taz) heute meist nur Nebeneinkünfte.
Eine einfache Gewinnmaximierungsanalyse führt zu dem Ergebnis, dass die Medien deshalb das berichten, was ihren Werbekunden die meiste Aufmerksamkeit verschafft. Und das ist wiederum, dass was die KonsumentInnen sehen/lesen/hören wollen. Was für mich in einem Widerspruch zu meinem Verständnis von politische Bildung steht.
Da an den Gewinnen auch die Arbeitsplätze hängen, ist für eine Transformation gesorgt.
Politische Bildung wird also von den Medien im relevanten Umfang nur an Zielgruppen vermittelt, die diese auch aktiv nachfragen.
Die ÖR-Medien stehen dabei ebenso unter Druck: Falls sie der seichten Unterhaltung entsagten (die ihnen via Einschaltquoten überhaupt die politische Existenzberechtigung liefert), würden sie die Zuschauer komplett zu den Privaten treiben. Denn politische Bildung ist Arbeit und das wollen die ZuschauerInnen eben nur in sehr limitierten Dosen.
Daneben gibt es zahlreiche (elektronische) private Medien, die ohne (sichtbare) monetäre Gewinnabsichten politische Bildung verbreiten (Online Zeitungen, Blogs,…) und von anderen maslowschen Motivationen getrieben sind. Sie alle unterliegen allerdings erheblichen monetären und zeitlichen Restriktionen.
Zum anderen sind sie oft von Medien, die gezielte Desinformation betreiben, schwer zu unterscheiden. Der Prozess der Markenbildung ist hier noch im vollen Gange.
II) Sanktionen
Staatlich: Stehen im Widerspruch zu Art. 5, 1 GG
Wobei ich ein Verbot von Springers Hetzblatt emotional durchaus begrüßen würde. Eine Enteignung des Springer Konzerns wäre mit dem Grundgesetz jedoch durchaus vereinbar.
Persönlich: Leserbrief schreiben. Abo kündigen. Werbekunden animieren, in den richtigen Publikationen zu werben. Nicht kaufen.
c) Erfolg
Push
Angesichts der schwachen Motivation ist das Maß der von den Medien aktiv verbreiteten politischen Bildung weiterhin erstaunlich. Dennoch bewegen sich die Redaktionen hier auf einem schmalen Grad.
Das mag an einem idealistischen Journalismusverständnis (frei nach Jörg) liegen. Man kann aber sagen, dass mehr politische Bildung verbreitet wird als die KonsumentInnen verarbeiten und speichern können.
Pull
Es ist unglaublich, welche Vielfalt an politischen Informationen online bereit stehen, wenn man nur danach sucht. Oder jemanden fragt, der damit umgehen kann.
Wissenschaft
a) Auftrag
Auch für die Wissenschaft kann also kein Auftrag zur allgemeinen politischen Bildung aus dem GG abgeleitet werden.
Außerdem ist ganz offiziell der Zugang zur Wissenschaft auch heute weiterhin auf Menschen beschränkt, die die Hochschulreife erlangt haben (weniger als 50% der Bevölkerung – Ausnahmen bestätigen die Regel).
b) Motivation
Weder für Forscher noch Dozenten gibt es Universitäts-intern echte monetäre Anreize, sich in die Niederungen der politischen Bildung herab zu lassen. Wer populäre Themen bearbeitet, kann jedoch manchmal einen privaten Verlag für eine populär-wissenschaftliche Buchveröffentlichung finden, die sich ggf, auch monetär auszahlen kann. Oft genug jedoch auch unterhalb des Mindestlohnes.
Aber auch die anderen maslowschen Anreize funktionieren in einer zwar Titel-fixierten, aber ansonsten tendenziell bildungsfeindlichen Gesellschaft (die z.B. unbekannte Worte eher ablehnt als nachschlägt) nicht.
Aber selbst der Elfenbeinturm ist nicht wirklich Bildungs-freundlich. Die häufigste an deutschen (und britischen) Universitäten von Hochschulreifen gestellte Frage ist nicht etwa: „Warum?“, sondern: „Ist das Klausur-relevant?“.
Allerdings ist die Abgehobenheit und Unzugänglichkeit auch ein Schutz vor Kritik und ein Ausdruck einer latenten Unsicherheit. Selbst in den Universitäten und in der wissenschaftlichen „Gemeinschaft“ gibt es meist keinen offenen Dialog und wenig kritische Diskussionen. (Auch interne) Kritik wird meist als Angriff auf die Person und nicht als Bemühen um Erkenntnis verstanden.
c) Erfolg:
Push:
Abgesehen von der Veröffentlichung in wissenschaftlichen Publikationen (für die breite Öffentlichkeit überwiegend unzugänglich) tragen die deutschen Hochschulen wenig direkt zur politischen Bildung bei (von einigen engagierten Ausnahmen abgesehen). Ein direkter Dialog mit „normalen Menschen“ wird von Lehrenden wie Forschenden nicht praktiziert (selbst bei den Ausnahmen). E-Mails bleiben einfach unbeantwortet.
Pull:
Die Internet-Seiten der meisten Lehrstühle sind organisatorisch wertvoll, politisch-inhaltlich jedoch leer. Wiss. Fachpublikationen werden von wenigen privaten Verlagen monopolisiert und sind für normale Menschen wenig zugänglich. Und selbst da werden oft nur Fazits, aber selten Daten veröffentlicht, die es möglich machen würden, die Ergebnisse nachzuvollziehen.
Rühmliche Ausnahmen wie wahlrecht.de und Hajo Funke beruhen meist auf persönlichen Initiativen und sind in der Regel schädlich für die wissenschaftliche Karriere.
Darüber hinaus gibt es aber eine Vielzahl von populär-wissenschaftlichen Buchtiteln, die zu grundsätzlichen und aktuellen politischen Themen informieren und (für alle, die sich selbst ein Buch nicht leisten können oder wollen) sogar über lokale öffentliche Büchereien (ggf. via Fernleihe) zugänglich sind, die es sogar in Sachsen gibt.
Fazit:
Ja, politische Bildung im Push-Modus drängt sich nicht unbedingt auf in Deutschland. Und das finde ich sogar überwiegend ganz gut so.
Auch wenn es verlockend ist, Leuten, die behaupten, Vertriebene bekämen mehr Geld als Hartz IV Empfänger, eine 6-monatigen Zwangskurs zur deutschen Sozialbürokratie zu verpassen. Inklusiv Praxis-Teil auf der Empfänger-Seite. Und Leute, die Kondensstreifen als „Chemtrails“ bezeichnen, drei Jahre Schulphysik (und Chemie) nachholen zu lassen. Deutschland könnte davon nur profitieren.
Aber – wenn man von aktuellen wissenschaftlichen Hot Stuff – absieht, sind heute eigentlich alle wichtigen Informationen zur politischen Bildung online vorhanden.
Ein einfacher Internet-Zugang ist inzwischen so günstig, dass er nur einen Bruchteil von einem Zeitungs-Abo kostet. Wer ihn hat und sich trotzdem nicht die verfügbare, und notwendige politische Bildung besorgt, bevor er das Maul aufreißt, der will sich gar nicht mit der Komplexität unserer Welt auseinander setzen. Der ist nicht mal dumm, sondern einfach nur faul. Und natürlich haben sich die von Jörg angesprochenen „Reichbürger“ informiert. Aber eben gezielt einseitig. Da fehlt es dann grundsätzlich am Willen zur politischen Bildung. Und den kann man nicht mal erzwingen. Und so jemand ist für mich (wie jeder AfD-Wähler) einfach nur ein – selbstverantwortlicher – Ignorant. Und das ständige Gejammere „die Politiker“ seien Schuld und hätten es doch so gut, mag ich einfach nicht mehr hören. JedeR kann (ein besserer) Politiker werden! Aber das wäre ja Arbeit, oh nein, da ist es doch einfacher, auf die, die sich engagieren, einzudreschen.
Natürlich könnte man die politische Bildung noch besser und effektiver organisieren. Aber solange ich nicht bereit bin, das als Politiker selbst zu tun, werde ich solchen pauschalen Statements gegen sie nicht unterstützen. Und obwohl ich als Blogger selbst ein Medium betreibe und die professionelle Konkurrenz gern und hart kritisiere, so würde ich ihnen keinesfalls pauschal ein „Versagen“ vorwerfen, nur weil jetzt die (bis zu 20% d.B.) deutschen Faschisten, die seit meiner Jugend immer schon da waren (damals sogar mehr) und an denen ich mich oft genug gerieben habe, plötzlich öffentlich sichtbar werden. Früher haben sie den gleichen Unsinn und den gleichen Hass noch unter den Label „CDU“ verbreiten können. Wie Alfred Dregger, nur um ein Beispiel zu nennen.
Was nicht heißen soll, dass ich nicht mehr politische Bildung für notwendig und hilfreich halte. Aber ich sehe mich (und dich) in der gleichen Verantwortung wie andere Akteure auch. Und wir alle könnten (und sollten) noch mehr tun und bessere Anreiz- und Kontrollmechanismen schaffen, als wir bisher getan haben.
Genug für heute.
#3 by Jörg on 24. Oktober 2016 - 8:31
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Hab grade wenig Zeit, deshalb nur zwei kurze Anmerkungen dazu:
„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages…
Die Abgeordneten des Bundestages sind als Legislative aber nicht die Politik in seiner Gesamtheit. Der Bildungsauftrag liegt aber bei der Exekutiven. Und die könnte nicht sagen: Bildung kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.
Abgesehen von der Veröffentlichung in wissenschaftlichen Publikationen (für die breite Öffentlichkeit überwiegend unzugänglich) tragen die deutschen Hochschulen wenig direkt zur politischen Bildung bei.
Deshalb hatte ich auch gesagt, dass die Aufgabe der Medien ist, Mittler zwischen Politik, Wissenschaft und Bürger zu sein. Gesellschaftspolitische Prinzipien müssen auch nicht zwangsläufig im Grundgesetz festgehalten sein, sie haben sich aus dem menschlichen Zusammenleben ergeben. Gesetze sind nur dazu da, in unklaren Fragen festzulegen, welche Auffassung denn nun allgemeingültig ist.
#4 by Carsten on 24. Oktober 2016 - 12:57
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Carolin Emcke, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2016 sagte in ihrer Rede letzte Woche:
Deswegen lässt sich die Antwort auf Hass und Verachtung nicht einfach nur an „die Politik“ delegieren. […] Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heisst: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt.
Die ganze Rede:
http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/1244997/