Was heißt eigentlich „Kaufen“?
Unter Kaufen verstehe ich (und wohl die meisten mit mir), dass ich gegen die Zahlung eines Geldbetrages die Eigentumsrechte an einer Sache erwerbe. Und mit dieser Sache tun kann, was ich will. Ich kann sie beliebig oft nutzen, ich kann sie verleihen und weiterverkaufen oder sie zerstören oder vererben. Sie gehört mir.
Im Geschäftsleben gibt es dafür Beschränkungen und rein juristisch betrachtet können in Kaufverträgen auch andere Regelungen getroffen werden. Doch der durchschnittliche Konsument verbindet genau diese Definition (mehr oder weniger bewusst) damit, wenn er online auf den Knopf „Jetzt kaufen“ drückt. Und irrt.
Und zwar zunehmend. Und zwar immer, wenn:
a) er seine Daten nicht herunterladen und lokal speichern kann (Speichern in der Cloud) oder
b) zum Darstellen / Abspielen / Nutzen seiner Daten ein Sicherungssystem zum Einsatz kommt (DRM = Digital Rights Management)
c) beides zutrifft (doppeltes Risiko!) oder
d) der Internet Zugang gestört / gesperrt / zu langsam / zu „anders“ ist (diesen Fall hab ich bereits vor zwei Jahren selbst erlebt und satirisch verarbeitet)
e) die Nutzung an ein bestimmtes Endgerät gekoppelt ist (oft in Kombination mit einem der andern Punkte)
Seit Konzerne die Wolke („Cloud“) als Geschäftsmodell entdeckt haben, versuchen sie immer öfter den Eindruck zu erwecken, wir würden bei ihnen etwas kaufen (und verlangen entsprechendes Geld dafür), ohne dass die damit verbundenen Erwartungen tatsächlich erfüllt werden. Musik, Videos, Spiele und elektronische Bücher aus der Cloud sind nach dem Erwerb oft nur unter bestimmten (nur zum Teil technischen) Voraussetzungen nutzbar.
Einige Einschränkungen sind offensichtlicher und vielleicht leichter zu verkraften. Dass ich ein in der Cloud liegendes Video nicht verleihen kann, mag bedauerlich, vielleicht noch akzeptabel sein. Auch dass ich meine Sammlung nicht wieder verkaufen kann, ist zumindest im Moment des Kaufes oft weniger wichtig. Dennoch handelt es sich meiner Meinung schon dabei nicht mehr wirklich um einen „Kauf“. Ich würde sehr dafür plädieren, ein neues Wort dafür zu schaffen, dass widerspiegelt, dass ich nur eingeschränkte Eigentumsrechte erwerbe.
Doch die Beschränkungen gehen noch viel weiter- und beim sogenannten „Kauf“ ist sich der Kunde über diese Beschränkungen fast nie im klaren. In folgenden Fällen kann heute oft keine Nutzung digitaler Cloud-Inhalte mehr erfolgen, oder nur mit extrem hohem Aufwand (technische Hacks, Telefonhotline-Horror, Gerichtsverfahren) wieder erreicht werden:
- Anbieter will bestimmte Inhalte / Formate nicht mehr anbieten/ unterstützen
- Anbieter verliert die Rechte an bestimmten Inhalten / Formaten
- Umzug (des Kunden) in ein anderes Land
- Insolvenz / Auflösung / Fusion des Anbieters
- Anbieter verabschiedet sich aus dem Geschäftsfeld
- Zugangsgerät/ Betriebssystem / Hardware-Bauteil wird nicht mehr hergestellt / geht kaputt
- DRM Infrastruktur eines Drittanbieters wird abgeschaltet
- DRM Software wird nicht mehr unterstützt
- Heirat (wenn die Nutzung an einer bestimmten Art des Zugriffes (Leitungssgebunden) hängt, die pro Haushalt nur einmal möglich ist)
- Trennung / Scheidung
- Todesfall (Vererbung nicht möglich)
Oft denkt man nicht an diese Fälle, wenn man kauft. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde heute schlagartig meine Schallplatten-, Kassetten- oder DVD Sammlung verlieren, weil einer der obigen Gründe eingetreten ist, dann wäre das schon ein Schlag – den ich nicht vorhergesehen hätte, als ich mir die einzelnen Inhalte kaufte.
Gegen einige dieser Fälle haben sich die meisten Anbieter in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) auch rechtlich pauschal abgesichert (sie dürfen das machen, ohne den Kaufpreis erstatten zu müssen). Andere Rechte besitze ich zwar theoretisch, aber müsste sie ggf. erst per Gerichtsverfahren einklagen – mit dem Risiko, am Ende auf Gerichts- und Anwaltskosten sitzen zu bleiben. Im Fall einer Insolvenz des Anbieters (oder seines Dienstleisters) wäre auch diese Möglichkeit hinfällig.
Sind diese Fälle denn überhaupt relevant? Nun, erste Fälle gibt es: Immer wieder löscht Amazon ganze „gekaufte“ Bibliotheken oder einzelne Bücher von allen Kindle-Readern. Nun stellt Microsoft die Unterstützung der für den MP3 Player Zune verkauften Inhalte ein:
Kunden, die sich Dateien mit Digital DRM andrehen haben lassen, sitzen jedoch auf einem kurzen Ast. Weil jene Server, die in regelmäßigen Abständen die Lizenzen bestätigen müssen, nicht mehr existieren, werden die DRM-Musikdateien über kurz oder lang nutzlos sein. Von Geld zurück ist keine Rede.
Hier hat sich ein Geschäftszweig als nicht profitabel erwiesen – und so verlieren alle Microsoft Kunden, die den Werbeversprechen des Konzerns damals Glauben schenkten, die Möglichkeit, die „geschützten“ Inhalte weiter zu nutzen. Ob die Kunden nun vielleicht Anspruch auf Erstattung des Kaufpreises haben, müssen sie nun juristisch klären. Auch die Höhe der Erstattung ist anschließend ein spannendes Thema – ein Song von 1999 ist zwar alt, aber in digitaler Form keiner Abnutzung unterworfen.
Dass Microsoft kein Geld erstatten will, liegt nicht daran, dass es sich der Konzern nicht leisten könnte – sondern nur daran, dass er es kann. Und falls in Deutschland tatsächlich Klagen erfolgreich sein sollten – mit TTIP könnte es durchaus passieren, dass dann nicht der Konzern, sondern der deutsche Steuerzahler dafür aufkommen muss.
Die Mühe jedoch, eine Musiksammlung zu verlieren und komplett neu anzulegen (d.h. vor allem neu zu kaufen), wird einem Microsoft keinesfalls erstatten (müssen). Obwohl der Konzern beim Verkauf der Musikstücke sicher nirgends darauf hingewiesen hat, dass er sich das auch mal anders überlegen könnte.
Und Microsoft ist sicher nicht der letzte Anbieter von digitalen Inhalten, für den das Geschäftsfeld irgendwann unprofitabel wird. Die Branche ist im Umbruch – genau wie unser Leben (siehe oben). Niemand sollte sich beim Kauf von digitalen Inhalten von proprietären Formaten und monopolistischen Anbieter anhängig machen (müssen).
Das Beispiel Microsoft zeigt auch, dass große Konzerne und bekannte Marken keinen Schutz vor solchen ungeplanten Verlusten bieten. Im Gegenteil – die internationalen Konzerne sind heute so großem Gewinn-Druck unterworfen, dass sie auf vielen Geschäftsfeldern sprunghaft und unberechenbar agieren.
Was folgt daraus?
- Digitale Inhalte erwerben und gleich herunterladen ist praktisch. Wir sollten uns jedoch jedes Mal, bevor wir vermeintlich digitale Inhalte „kaufen“, sorgfältig überlegen, ob wir das wirklich tun wollen. Zu einen, ob wir wirklich nur beschränkte Rechte erwerben und das Risiko eines Totalverlustes in Kauf nehmen wollen. Zu anderen aber sollten wir auch überlegen, ob wir solche halbseidenen Geschäftsmodelle und Geschäftsgebaren überhaupt unterstützen wollen.
- Wenn sich aber ein sogenannter „Kauf“ nun nicht vermeiden lässt (warum auch immer), könnte es sinnvoll sein
- einen (digitalen) Kaufbeleg aufzubewahren (z.B. um später Erstattungsansprüche geltend machen zu können – besonders interessant, weil sich ein Preisverfall bei digitalen Gütern ggf. zu den eigenen Ungunsten auswirken kann)
- die AGB zum Kaufzeitpunkt zu sichern (damit nicht durch spätere AGB Änderungen die Kaufbedingungen zum eigenen Schaden verändert werden können)
- eine Privatkopie des erworbenen digitalen Gutes zu beschaffen und privat zu speichern (es wäre spannend, herauszufinden, ob ich für den illegalen Download eines Musikstückes oder eine Filmes bestraft würde, wenn ich ihn vorher legal gekauft habe).
- Politisch sollte darüber hinaus nachgedacht werden, ob wir nicht dringend eine andere Bezeichnung für solchen Verträge brauchen. Wie Begriffe wie „Pacht“ und „Schenkung“ zeigen, ist das auch bei zahlenmäßig gesellschaftlich weniger oft vorkommenden Geschäftsfällen durchaus üblich. Warum nicht auch angesichts der zunehmenden Relevanz digitaler Käufe die komplexen technischen und legalen Fallstricke zumindest etwas transparenter machen?
Dieses als erster Denkanstoß zu diesem komplexen Thema. Gern sehe ich eure eigene Meinung dazu – als Kommentar oder eigener Blog-Beitrag (den ich hier gern verlinke). Zur Vertiefung plane ich folgende weitere Beiträge:
- Welchen Begriff könnten wir statt „kaufen“ für solche beschränkten Rechteeinräumungen verwenden?
- Wie sehen eigentlich bei den verschiedenen Anbietern die AGB aus?
- Was ist die Strategie der Content-Industrie?
- Wie sieht es eigentlich mit dem Schutz von privaten Inhalten aus, die wir in die Cloud hochladen?
- Wertentwicklung von digitalen Gütern
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