Gestern war ich in Frankfurt in der Schirn und habe dort zwei Ausstellungen gegeneinander antreten lassen:  GÉRICAULT. BILDER AUF LEBEN UND TOD  gegen  BRASILIANA. INSTALLATIONEN VON 1960 BIS HEUTE

GÉRICAULT. BILDER AUF LEBEN UND TODIch halte viel vom innovativen / künstlerischen Potential Brasiliens (insbesondere seit ich Vílem Flusser gelesen habe, aber auch durch meine eigenen – nicht repräsentativen – Aufenthalte dort) und die Ausstellung Brasiliana war zum letzten Mal geöffnet. Also höchste Zeit!  Die Schirn hatte ich durch die Yoko Ono-Ausstellung noch sehr positiv in Erinnerung. Die Géricault-Ausstellung habe ich dann erst zufällig beim Besuch der Schirn-Web-Seite entdeckt und was ich dort las, klang sehr interessant. Als sie mir dann auch noch von Peter Brunner empfohlen wurde, war klar: Die will ich auch sehen!

Natürlich handelt es sich um ein ungleiches Duell: Sie unterscheiden sich drastisch sowohl in der Zeit in der und den Orten, an denen die Werke geschaffen wurden, den Methoden, als auch in der Größe  und der Anzahl der Exponate. Théodore Géricault lebte von 1791–1824 in Frankreich und England und hat gemalt und gezeichnet. Die Brasilianer haben ihre Werke (8 großräumige (Multi-Media-) Installationen) seit 1960 erschaffen.

Aufgrund der Schwere des Thema habe ich Géricault den Vortritt gelassen – ob meine Bewertung anders ausgefallen wäre, hätte ich die andere Reihenfolge gewählt, kann ich nicht sagen. Beide Ausstellungen enthielten Werke, die mir gar nichts sagten, beide enthielten aber auch Werke, die mich stark beeindruckten.

Die Géricault Ausstellung rückt zwei Themenkomplexe des bedeutenden französischen Malers der romantischen Schule in den Mittelpunkt: Das physische Leiden des modernen Menschen sowie die psychische Qual, die seine Porträts von Geisteskranken zeigt. Diese damals komplett neuartigen Darstellungen von existenziellen Situationen, von Wahnsinn und Krankheit, von Leiden und Tod stehen beispielhaft für Géricaults besondere Modernität, die solchen mit Abscheu und Ekel besetzten Themen eine verstörende Aktualität verleiht. Angesiedelt zwischen einem romantischen Geschmack an Horror und dem unsentimentalen Blick der Wissenschaft bieten Géricaults Bildern von Tod und Wahnsinn einen faszinierenden Einblick, wie in dieser Zeit die Wahrnehmung des modernen Menschen entstand.

GÉRICAULT. BILDER AUF LEBEN UND TODBei seinen frühen Soldaten- und Kriegsbildern tritt wohl Kunsthistorisch (las ich, ich bin da keine Experte)  zum ersten Mal das Leid des einfachen Soldaten vor die Darstellung der Schlachten, Feldherren und Könige. Mehrfach fühlte ich mich an das Werk des – viel, viel später aktiven – deutschen Zeichners A. Paul Weber erinnert, der ähnliche Themen, Motive und Stilmittel nutzte, um in seinen Bildern eine politische Aussage zu transportieren.

Der besondere Verdienst der Schirn liegt bei dieser Ausstellung darin, nicht nur Werke Géricault auszustellen, sondern sie zum einen in einen Kontext zu anderen Kunstwerken ähnlich arbeitender Zeitgenossen zu stellen, die in nicht geringer Zahl in der Ausstellung zu sehen sind und von denen einige (besonders faszinierend!) der todkranken bzw. sterbenden Géricault zeigen. Dabei sind auch erste Fotografien von Geisteskranken, die ich mindestens genauso faszinierend fand, wie die Zeichnungen und Gemälde (aber ich bin halt Fotograf). Zum Anderen hat die Schirn auch historische medizinische Fachbücher und Modelle der entsprechenden Zeit in die Ausstellung aufgenommen, die die gleichen Themen aus wissenschaftlicher Perspektive zeigen – deren – oft namenlose – Schöpfer aber offensichtlich genauso fasziniert waren.

Ein toller Ansatz. Die Ausstellung ist noch bis zum 26. Januar zu sehen.

BRASILIANA. INSTALLATIONEN VON 1960 BIS HEUTEDa wo die absolute Stärke der Géricault-Ausstellung liegt, liegt ausgerechnet die größte Schwäche der Brasiliana-Ausstellung.

Angesichts des großen Zeitraumes (63 Jahre – Géricault ist gerade einmal 31 Jahre alt geworden), der geringen Zahl der Exponate, der unglaublichen Größe des Landes Brasilien, der massiven wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zerrissenheit des Landes sowie der extrem bewegten Geschichte Brasiliens und der der Welt außen herum

(nur zur Erinnerung, in diese Zeit fällt z.B.:

  • die brasilianische Militärdiktatur
  • der kalte Krieg
  • der Vietnam-Krieg
  • die weltweite 68-er Revolte
  • der US-Putsch in Chile
  • die sandinistische Revolution in Nicaragua
  • die Staatspleite Argentiniens
  • der Ende der sozialistischen Wirtschaftssystem im Ostblock
  • die Wahl des Sozialisten Lula zum brasilianischen Präsidenten
  • und vieles, vieles mehr…

)

BRASILIANA. INSTALLATIONEN VON 1960 BIS HEUTEfehlt jede Einordnung der Kunst in diese Kontexte – aber auch jede Einordnung in Kunst-theoretische Diskurse und Bewegungen oder ein in-Beziehung-setzen der Werke zueinander. Das ist extrem bedauerlich, weil so das Gefühl entsteht, als seien die Exponate völlig willkürlich und un-repräsentativ ausgewählt worden.

Eine „originär brasilianische Kunst“ – wie sie die Schirn-Ankündigung versprach – konnte ich nicht erkennen. Statt dessen habe ich die Ausstellung mit dem Gefühl verlassen, nichts über die Besonderheiten der Kunst in Brasilien erfahren – sondern nur ein paar (Achtung: Provokation) mehr oder weniger relevante Werke von gelangweilten, aber wohlhabenden Oberschichten-Künstlern gesehen zu haben.

Drei der Brasiliana-Installationen haben nur vom Kopf her funktioniert – drei weitere haben sich mir völlig entzogen. Auf der Plus-Seite: Während ich wirklich froh bin, dass die Géricault-Bilder im Museum hängen und nicht bei mir Zuhause, gibt es in der Brasiliana-Ausstellung gleich zwei Installationen, die ich bei mir Zuhause sofort nachahmen würde, wenn ich den Platz hätte:

und die mir Erfahrungen vermittelten, die mir bisher neu waren. Insofern war Brasiliana eine punktuell tolle Erfahrung, für die ich dankbar bin.

Aber eine Schirn kann und sollte hier mehr leisten, als Installationen zusammenhanglos nebeneinander zu klatschen. Es zeugt von kultureller Ignoranz und Euro-zentristischer Weltsicht, zu glauben, das allein das gleiche Herkunftsland ein Konzept ist, das über 50 Jahre hinweg als Konzept taugt. Selbst ich als absoluter Brasilien-Amateur weiß, dass brasilianische Kunst tausendmal vielfältiger und spannender ist als das, was die Schirn hier zeigte.

Abschließend noch ins Stammbuch von jenen, die behaupten Social Media – oder besser gleich noch „das Internet“ – lasse Menschen vereinsamen:
Ich habe 30min vor Abfahrt über Twitter jemanden gefunden, die spontan mit ins Museum nach FFM kam. Twitter war bisher unser einziger Kontakt. Und es war eine sehr schöne gemeinsame Aktion.

 

Siehe auch folgende Ausstellungs-Besprechungen :

5. September bis 3. Oktober in Darmstadt: Anders sein – anders sehen

 

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