In meiner Jugend hatte Westdeutschland ein Drei-Parteien-System. Die meisten WählerInnen waren per Religion, Beruf, Ehe oder Familientradition fest an eine der sog. „Volksparteien“ gebunden (ca. 75% „StammwählerInnen“) und der kleine Rest bestimmt, mit welcher Partei die FDP regieren konnte / sollte (oder ob es für eine von ihnen alleine reichte).
Das machte nicht nur das Regieren leicht, sondern ermöglichte auch einen Parteiübergreifenden Konsenz über bestimmte Fragen, die der Bevölkerung nie zur Abstimmung vorgelegt wurden (Vogelschutz, US-Atomwaffen in Deutschland, Volkszählung, Geheimdienste, Überwachung, Atomkraft,…).
Das entsprach nicht dem Verständnis von Demokratie, dass ich aus Büchern und der Schule entwickelt hatte. So war ich damals über die Gründung der Grünen sehr erfreut und habe mich bald als Mitglied und durch lokalpolitisches Engagement dort eingebracht.
Seitdem hat sich viel zum Besseren entwickelt im politischen Deutschland. Doch was bisher Verschiebungen im Detail waren (Einzug der Grünen in den Bundestag, erste Rot-Grüne Koalitionen, Einzug der Linken in den Bundestag,…), hat sich in diesem Jahr und spätestens mit dem Ergebnis der Europawahl zu einer grundsätzlichen Umwälzung entwickelt.
Die „Volksparteien“ erleben ihren Niedergang – das System der großen vs. der kleinen Parteien ist am Ende. Am sichtbarsten ist das derzeit bei der SPD, die jetzt mehrfach unter 20% geplandet ist und alles dafür tut, bald die 5% Marke zu erreichen.
Doch auch der früheren 40%plus Partei CDU (derzeit noch: 28%) droht ein sehr ähnliches Schicksal. Denn was die sehr hohen Zustimmungswerte bei den RentnerInnen noch kaschieren: Die Zustimmung zur CDU sinkt drastisch, je weiter die WählerInnen von der durchschnittlichen Lebenserwartung entfernt sind.
Alter | CDU | Grüne |
70+ Jahre | 48% | 9% |
60-69 Jahre | 33% | 15% |
45-59 Jahre | 27% | 19% |
35-44 Jahre | 25% | 19% |
25-34 Jahre | 21% | 22% |
18-24 Jahre | 13% | 33% |
So analysierten die Meinungsforscher nach der Europawahl das Wahlverhalten nach Alter (Quelle: Spiegel).
Und damit ist noch lange nicht das Ende erreicht: Krasser ist die Lage bei den ErstwählerInnen.
Und mit jedem neuen Jahrgang ErstwählerInnen verschärft sich das Problem: Auch bei den (nicht repräsentativen) U18 Wahlen (die eine Wochen vor der jeweiligen Wahl in Schulen und Jugendzentren abgehalten werden) lagen die Grünen mit fast 29% erstmalig vor der CDU mit unter 13%.
Kurz gesagt: Die verläßlichen StammwählerInnen sterben der CDU weg und es findet ein Wertewandel statt, dem sich die Union verweigert. Denn es ist nicht so, dass diese Entwicklung überraschend kommt:
- Schon 1994 haben die Grünen der CDU in einer Studentenstadt (Konstanz) den Bürgermeister-Posten weggeschnappt
- Bei U18-Jugendwahlen sind die Ergebnisse der CDU seit vielen Jahren absteigend.
- In nicht wenigen Großstädten (wie auch Darmstadt) sind die Grünen inzwischen stärker als die CDU
- Sogar in der Bundeshauptstadt liegt die CDU seit 2018 in Umfragen hinter den Grünen zurück.
- Und auch im konservativen Baden-Württemberg sind die Grünen an der CDU vorbei gezogen, führen die Regierung und werden wiedergewählt.
Natürlich kann man das alles jeweils mit Sonderfaktoren begründen. Und auch jetzt scheint die CDU zwanghaft bemüht, das Europawahlergebnis auf die „Friday for Future“-Klimaproteste bzw. einen einzigen Blogger herunterspielen zu wollen.
In Wirklichkeit jedoch zieht sich durch Deutschland ein Werte-Riss, den die CDU unfähig ist, integrativ zu überbrücken. Hier nur ein paar Themen anhand deren ich das (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aufzeigen möchte:
- §13 EU Urheberrechtsreform – hier geht die Position der CDU, die hier die Interessen der Verlage und Konzerne vertritt, komplett an der Internet-Nutzungs-Realität der (jüngeren) Menschen vorbei.
- Hambacher Forst: Dass hier ein Waldgebiet den (klimaschädlichen) Wirtschaftsinteressen eines Konzerns geopfert werden soll, ist vielen (jüngeren) Menschen zu recht unverständlich. Und der gewalttätige Einsatz der Polizei gegen Protestierende erscheint ihnen völlig unverhältnismäßig.
- Das „Verständnis“, das nicht wenige CDU / CSU Politiker in der Öffentlichkeit für rassistische und ewig-gestrige Positionen und Anhänger der AfD aufbringen und rechtsradikale Tendenzen bei Polizei und Verfassungsschutz verharmlost und unter den Teppich zu kehren versucht.
- Eine Kanzlerin, die das Internet als „Neuland“ bezeichnet.
- Die staats-christliche Position, die Abtreibungen und gleichgeschlechtliche Liebe denunziiert und an Feiertagen „Tanzverbote“ (für alle) verhängt und die Vorführung von bestimmten Filmen verbietet
- Die Deckung von Abgas-Betrug durch die Autoindustrie
- Kungelei mit rücksichtslosen & verbrecherischen Großkonzernen wie zum Beispiel Nestlé
- Die (EU-) Militär- und Aufrüstungsbemühungen, die Beteiligung an US-Kriegen und am Drohnenterror und unchristliche Rüstungsexporte in alle Welt.
- Glyphosat – die Genehmigung, unsere Lebensmittel mit (potentiell krebserzeugendem) Gift zu besprühen
- Rüstungsexporte (insbesondere an Länder wie Saudi Arabien)
- CDU-Artenschutz: Wölfe reißen ein Schaf? Wölfe töten! Stechmücken? Großflächig Gift sprühen!
- Vortgesetze Benachteiligung von RadfahrerInnen in Straßenverkehr (mit Todesfolge) und die einseitige Verfolgung von Gesetzesverstößten
- Snowden, Manning (und eingeschränkt Assange) – Menschen, die Helden sind, die ihre Existenz für Demokratie und Freiheit aufs Spiel setzen, aber von der CDU als Verbrecher gesehen werden.
In all diesen Fragen geht ein Riss durch die deutsche Gesellschaft. Ein Riss, der weder mit pragmatischen Entscheidungen noch mit Ideologien zu tun hat. Sondern grundsätzliche Unterschiede in Werten wiederspiegelt. Bei denen die CDU auf der einen Seite, und immer mehr (nicht nur) jüngere Menschen auf der anderen Seite stehen.
Eine kluge Partei könnte diese Werteunterschiede anerkennen, wenigstens versuchen, Kompromisse zu finden und dort, wo das nicht möglich ist, wenigstens deeskalieren. Doch die CDU setzt hier immer wieder auf den maximalen Konflikt: Sei es die Bestrafung von Klima-Demonstrationen, Eskalation im Hambacher Forst, Verbreitungsverbote von Glyphosat-Gutachten, Beschimpfung von §13 Protesten als „bots“, u.s.w. u.s.f..
Der jüngste Vorstoß von AKK zur Zensur von YouTubern, die CDU-kritische Positionen vertreten, ist das anti-demokratische Extrem davon. Sehr gut formuliert übrigens diese Reaktion vom Spiegel:
Soweit an dieser Stelle bekannt, gibt es da durchaus eine Regel, analog und digital. Sie gilt für Redaktionen, YouTuber und auch für alle anderen. Sie steht im Artikel 5 unseres jüngst gefeierten Grundgesetzes: Die Verfassung garantiert das Recht eines jeden, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“.
[…]
Wie man es auch dreht: Es bleibt erschreckender Unsinn. Es bleibt der verheerende Eindruck, die CDU-Vorsitzende wolle den Bürgern den Mund verbieten. Es bleibt die bittere Erkenntnis, dass die Frau mit der Ambition auf das mächtigste Amt des Landes keine Widerrede vertragen kann.
Quelle: Spiegel
Dass sie nicht versteht, wie mit dem Internet jeder und jede zum Massenmedium werden kann, wenn er oder sie ein Publikum findet – und dass das vollkommen in Ordnung ist, nämlich urdemokratisch. Es zeigt sich, dass die CDU-Chefin nicht in der Lage ist, auf ihre Niederlage mit neuen Politikansätzen zu reagieren. Stattdessen taucht sie ab in wirre Kontrollphantasien. Annegret Kramp-Karrenbauer redet häufig unverständlich. Diesmal jedoch kann sie davon ausgehen, dass ihre Worte genau richtig verstanden wurden.
Im Internet gibt es dafür einen Namen: Filterblase. Das bedeuet, das man aufgrund des (beschränkten) eigenen Bezugsrahmens den Blick für die Realität verliert. Und dazu gehört auch, das miese Wahlergebnis auf einen einzigen YouTuber zu reduzieren.
Und sie ist bei weitem nicht die Einzige in der CDU, die bereit ist, Prinzipien der Verfassung und des Rechtsstaates dem eigenen Machterhalt zu opfern. Auch die Darmstädter CDU hat damit kein grundsätzliches Problem, wie Ordnungsdezernent Rafael Reisser hinlänglich (und ohne Reue) bewieß.
Das ist vielleicht auch der Unterschied zur SPD – deren Führung sich zwar schon lange so dämlich präsentiert, dass man ihr (wie den HSV) jeden Niederlage von Herzen wünscht. Aber die immerhin ein Wertekonzept hat, das auch heute noch Tragfähig wäre, wenn sie denn mal ihren Ausverkauf an den Konzern-Kapitalismus („Genosse der Bosse“) und die US-Bindung aufgeben würde. Ein Ende der Überheblichkeit gegenüber Armen und Arbeitslosen und ein überzeugendes Vorantreiben von Konzepten wie bedingungsloses Grundeinkommen, Spekulationssteuer, Kapitalertragssteuer und Vermögenssteuer (sprich: Umkehrung der Umverteilung) könnte die SPD schnell wiederbeleben.
Die CDU hat dagegen kein zukunftsfähiges Konzept für Deutschland (oder Europa) – nur die gemächlich schwindende Unterstützung von langsam sterbenden Rentnern und Kirchen. Sorry: No future, CDU.
Update 2.6.2019: Einen Tag nach Veröffentlichung dieses Artikels: Forsa: Grüne erstmals vor Union – SPD auf Rekordtief
Update 3.6.2019: Die FAZ über: Christdemokraten in der Krise : Die Zerstörung der CDU
Update 4.6.2019: Vor die Wahl gestellt zwischen einer CDU-Kanzlerin AKK und Robert Habeck (Grüne) würden sich 43% der Deutschen für den Grünen entscheiden, nur 21% (weniger als die Hälfte!) für AKK (34%: keineN von beiden, 2% Enthaltung). Und auch hier sieht es bei den Jugendlichen noch mal drastischer aus:
Bei der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen würde sich mit 52 Prozent mehr als die Hälfte bei einer direkten Kanzlerwahl für Habeck und nur 15 Prozent für Kramp-Karrenbauer entscheiden. 31 Prozent würde weder die eine noch den anderen wählen.
Quelle: MSN / Welt
Der statistische Fehler der Umfrage liegt bei 2,5 Prozentpunkten.
Update 5.6.2019: Beim Klimawandel rücken einflußreiche CDU Politiker sogar vom (unzureichenden) Kohleausstieg wieder ab und Wolfgang Schäuble (CDU) fordert Samstagsunterricht für streikende SchülerInnen. Kluge Strategie. Nicht.
Update 6.6.2019: Umfragen von Forschungsgruppe Wahlen, Infratest
dimap und INSA bestätigen den von Forsa zuerst beobachteten Trend (s.o.), dass die Grünen inzwischen gleichauf mit der CDU liegen – mal 1 % vor ihr, mal 1% dahinter.
Update 16.6.2019: Das die Grünen inzwischen stärkste Partei sind, haben inzwischen andere Umfragen bestätigt. Letzter Stand heute: Grüne 27%, CDU 24%, SPD 11%. Das ist außerhalb der statistischen Fehlertoleranz von 2,5%. Und:
Noch krasser fallen demnach die Umfragewerte in der Gruppe der Schüler und Studenten aus. Hier erreichen die Grünen mit 51 Prozent die absolute Mehrheit. Es folgt die CDU/CSU mit zehn Prozent vor FDP und Linkspartei mit jeweils neun Prozent und der SPD auf dem fünften Platz mit acht Prozent.
FR, 15.6.2019 (Hervorhebungen von mir)
Update 9.2.2020: Die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen am 5.2. 2020 hat eine klare Nähe der CDU Abgeodneten zur AfD gezeigt. Seitdem haben sich die Umfragewerte der CDU im Vergleich zur Landtagswahl (21.7%) fast halbiert (12-13%):
Update 16.6.2020: Laut einer aktuellen Umfrage von Forsa (Im Auftrag von RTL und N-tv) hat sich der Stimmenanteil der Grünen bei den 18- bis 20-jährigen Erstwählern auf 42% erhöht. Wäre am Sonntag Bundestagswahl, dann wäre die Partei damit bei den Erstwählern die stärkste politische Kraft. Unter den jüngsten Wählern kam die Union auf 24, die SPD auf 9, die Linke auf 7, die AfD auf 7 und die FDP auf 4 Prozent.
Siehe auch: Wie ich bei der Europawahl gewählt habe.
Pingback: Das Problem der SPD war nicht Andrea Nahles | Neun Mal Sechs
Pingback: CDU against our Future | Neun Mal Sechs