In Darmstadt sind seit Beginn der Corona-Krise mehrere neue Fahrrad-Streifen entstanden. Weil der Autoverkehr sich mit dem ersten Lockdown reduziert hatte (und immer noch geringer ist) und weil Radfahren das Immunsystem stärkt. Sie heißen “Pop-Up”-Radstreifen, weil mit Farbmarkierungen und Baustellen-Elementen gearbeitet wird, statt mit permanenten Umbaumaßnahmen, die uns Steuerzahler:innen viel Geld kosten würden.

In diversen Online-Foren und Medien regen sich nun einige Auto-Fahrer lautstarkt auf und kritisieren diese Maßnahmen mit drastischen Worten – und machen einige wenige Fahrrad-Interessensvertreter:innen persönlich dafür verantwortlich.

Opitz - Hetze gegen Grüne

Für mich als Nutzer von sowohl Fahrrad als auch PKW (und ÖPNV u.a. – aber das tut hier nix zur Sache) ein Grund, mir die Sache mal systematisch anzusehen und zu bewerten.

Neckarstr.2 Pop-Up Radwege
Pop-Up Radwege

Sowohl in der Neckar-Straße (südwärts), an der unteren Bleichstr. bis auf den Steubenplatz, als auch ab Rossdörfer Platz (Richtung Böllenfalltor) wurde von je zwei Autofahrbahnen eine dem Radverkehr zugewiesen.

Neckar-Straße / Heidelberger Str.

Einfädeln in der Neckarstraße

Radfahrer:innen-Sicht: Der bisherige (von der Straße zurückversetzte, neben dem Fußweg verlaufende, viel zu schmale) Radweg war schon immer problematisch – Fußgänger haben ihn oft nicht als Radweg wahrgenommen (und sich und die Radfahrer so gefährdet) und Rechts-abbiegende Autofahrer (zum Beispiel in die Adelung- oder Elisabethenstraße) ebenfalls nicht (zumal er durch Bäume und Grundbegrünung dazwischen mehr oder weniger aus dem Sichtfeld war), was immer wieder zum gefährlichen Situationen führte. Diese Probleme sind jetzt behoben und Radfahrer:innen fahren dort jetzt definitiv sicherer. Durch die größere Breite ist ein zügigeres Vorankommen jetzt ebenfalls möglich.

Schwierig ist die Situation immer noch in der Kasinostraße – vor der Kreuzung am Kennedy-Platz. Hier geraten südwärts-fahrende Radfahrer in den – Rechts-Links-Geradeaus-Sortierverkehr der Autos. Hier wäre aber eine bauliche Lösung notwendig, um die Situation zu entschärfen. Wobei fraglich ist, ob es tatsächlich zwei Linksabbieger-Spuren aus der Bleichstraße heraus geben muss.

Fußgänger:innen-Sicht: Auch Fußgänger:innen haben jetzt mehr Platz und werden nicht mehr von hinten kommenden Radfahrern erschreckt – was insbesondere angesichts der gestiegenen Geschwindigkeit von (E-)Zweirädern ein ganz entschiedener Vorteil ist.

Autofahrer:innen-Sicht: Für Autofahrer:innen bedeutet die Verengung nach dem Kennedy-Platz nun die Herausforderung, sich im Reißverschlussverfahren einzufädeln. Was die Meisten von ihnen beherrschen, sodass der Verkehr zwar verlangsamt wird, aber (soweit ich das im Auto erlebt habe) der Verkehrsfluss nicht zum Erliegen kommt. Das passiert nur, wenn einzelne Autofahrer die Technik des Einfädelns nicht beherschen und entweder zu zögerlich vorgehen – oder drängeln. Dann treten plötzlich alle auf die Bremse.

Wenn es sich hier tatsächlich mal staute, dann war das immer ein Rückstau von der Ampelkreuzung mit der Elisabethenstraße.

Und was mir dort auffiel: Vier von fünf Autofahrern (in meiner Stichprobe nur Männer) betätigen den Blinker nicht, wenn sie sich in die linke Spur einfädeln wollen, sondern drängeln sich einfach so rein. Das nervt mich als Autofahrer, führt natürlich zu mehr Chaos und (unnötigen) Bremsmanövern – und potentiell Auffahrunfällen. Vielleicht sollte die Polizei da mal eine Kontrolle machen. Insgesamt wird Blinken in Darmstadt von der Mehrheit der Autofahrer ja eher als Hobby, denn als Verpflichtung nach der StVO angesehen. Dabei könnte es viele Situationen entschärfen.

Nun kann es natürlich sein, dass ich hier zu Zeiten gefahren bin, die nicht mit den Zeiten überein stimmten, an denen die Leute fahren, die sich beschweren. Und ja, ich habs mir extra auch im Berufsverkehr angesehen! Und ja, auch nach den Herbstferien. Doch auch meine kleine (nicht-repräsentative) Umfrage unter autofahrenden Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen (ausschließlich solche, die nicht mit der Darmstädter Politik verbandelt sind) hat nicht eine einzige Beschwerde zu Tage gefördert.

Update 19.11.2020: Ein Video

Bleichstr. – Steubenplatz – Hindenburgstr.

Radfahrer:innen-Sicht: Das letzte Stück der Bleichstraße war für Radfahrer immer ein Alptraum, zumal dort gern auch noch Last- und Lieferwagen wild parkten.

Jetzt ist hier ein zügiges, sicheres Fahren möglich. Wie weit der Radweg von illegalem Parken befreit bleibt, wird vor allem am Darmstädter Ordnungsamt liegen b.z.w. am zuständigen Dezernenten Rafael Reißer (CDU).

Bleichstr.

Auch das Einbiegen in den Steubenplatz und die Verkehrsführung dort ist faktisch gut gelöst – auch wenn es auf den ersten Blick ziemlich chaotisch und sehr provisorisch aussieht. Ich hatte – in der Radfahrer-Rolle – zuerst beim Heranfahren ein Problem, die Vielzahl der Informationen von Schildern und Markierungen zu verdauen, aber die Durchfahrt zum Steubenplatz ergibt sich dann doch von selbst. Ob allerdings die eigentlich gute Lösung für linksabbiegende Radfahrer von Ortsunkundigen rechtzeitig verstanden wird – da habe ich Zweifel:

Kritisch wird es allerdings wieder, wenn dann kurze Zeit später mitten auf der Kreuzung Hindenburgstr./Rheinstr. Radverkehr und Autoverkehr zusammengeführt werden (Das Darmstädter Thema “plötzlich abbrechende Radwege” – das wir allerdings der SPD verdanken). Siehe Bilder:

Nach der Kreuzung mit der Rheinstraße müssen sich plötzlich – ohne Warnung – Rad- und Autoverkehr zwei Fahrspuren teilen. Hier wäre zumindest eine gelbe Warnmarkierung auf dem Boden angebracht.
Das kann schon mal kritisch werden.

Fußgänger:innen-Sicht: Nicht betroffen.

Autofahrer:innen-Sicht: Keine signifikante Verschlechterung des Verkehrsflusses – auch im Berufsverkehr – zu beobachten. Viele Autofahrer:innen fahren nun aber wohl über die Kasinostr. zur Rheinstraße. Siehe meine Anmerkung oben zur Kasinostraße.

Roßdörfer Platz – Nieder-Ramstädter Str.

Früher endete der Radweg mitten auf dem Rossdörfer Platz

Radfahrer:innen-Sicht: Hier haben früher die Sortier-Vorgänge vor der Kreuzung mit der Heinrichstraße zu (gefühlt) bedrohlichen bis gefährlichen Situationen geführt. Insbesonder, weil es hier (non-E) Radfahrer:innen nach dem recht starken Anstieg vor der Kreuzung oft sehr langsam fahren und mit der Kreuzung nun plötzlich auf der Straße fahren mußten, während Autofahrer – jetzt eine zweisspurige Straße vor sich habend, nicht selten noch mal Gas gaben.

Diese Stelle ist jetzt gut entschärft.

Nicht optimal ist, das die Radspur dann zur Kreuzung Heinrichstraße ausläuft, aber hier ist es deutlich übersichtlicher als nach der Kreuzung mit Kurve am Rößdörfer Platz und durch die Ampel der Heinrichstraße ist der Verkehr hier meist entschleunigt.

Fußgänger:innen-Sicht: Nicht betroffen. Allerdings dürfte die Lärm- und Abgasbelastung der Anwohner:innen durch die Entschleunigung (s.u.) etwas sinken.

Autofahrer:innen-Sicht: Vor der Umgestaltung war es verlockend, das kurze zweispurige Stück noch schnell zum Überholen zu nutzen – weil es geht (ich muss zugeben, hab ich auch schon gemacht – ich bin nicht der geduldigste Autofahrer). Das ist jetzt nicht mehr möglich. Das ist aber kein Verlust an Lebensqualität.

Ansonsten gibt es hier keine Nachteile, da der Verkehr hier auch früher schon durch die Ampel an der Heinrichstraße ausgebremst worden ist.


Ich hoffe sehr, dass die Pop-Up Radspuren in Darmstadt dauerhaft erhalten bleiben – und die Grünen und die CDU nicht vor einer kleinen, lautstarken Minderheit von Autofahrern einknicken. Denn sie stellen eine deutliche und nowendige Verbesserung für den Radverkehr – insbesondere angesichts steigender E-Bike-Zahlen – dar. Bei zugleich minimalen und gut zumutbaren Einschränkungen für den Autoverkehr. Gut gelöst an den jeweiligen Stellen.

Das heißt nicht, dass Verkehrs-mäßig jetzt alles gut ist in Darmstadt. Aus meiner Sicht haben wir weiterhin ein ganz grundsätzliches Problem, von dem ich selbst regelmäßig betroffen bin:

Verbleibendes Grund-Problem: West-Ost-Verbindung

Was bei den Pop-Up Radwegen nicht angegangen wurde, ist das Problem, dass es praktisch keine gute West-Ost-Verbindung zwischen Bismark-Straße und Prinz-Emil-Garten für Radfahrer gibt. Wer mit dem Rad zum Beispiel vom Westen kommend zur Uni, Stadtbibliothek oder nach Bessungen will, hat es schwer.

Die Bleichstr. ist nur in Ost-Westlicher-Richtung befahrbar, Rheinstr. und Elisabethenstr. führen mitten durch die Fußgängerzone (weder für nur durchfahrende Radfahrer noch für die Fußgänger ideal – gerade wenn der Radverkehr weiter steigt), die Hügelstr. ist für Radfahrer gesperrt, die Straßen zwischen Hügelstraße und Heinrichstraße sind nicht direkt anfahrbar, weil man die Heidelberger-Straße nicht überqueren kann. Und dann bleibt da nur noch die Heinrichstraße, um irgendwie Stadt-nah nach Osten zu kommen. Und den Berg der Heinrichstraße hoch ist das Verhältnis zwischen Autos und Rädern sehr schwierig:

Denn hier geht es den Berg hoch – das heißt die Radfahrer fahren noch langsamer als sonst und können schon mal ins schwanken geraten. Das bedeutet: Solange es Gegenverkehr gibt (also meistens), tuckern die Autos dem Rad hinterher (mit oft überdrehendem Motor – Stress für beide!):

– oder die Autofahrer:innen überholen, ohne sich an den Mindestanstand zu halten und gefährenden (potentiell schwankende) Radfahrer:

Hier gibt es dringend Bedarf zur Verbesserung – ohne dass ich konkret einen Vorschlag machen könnte, wie.


Weniger Autofahrer bedeuten übrigens tatsächlich weniger Tote: Die Zahl der im Verkehr getöteten Radfahrer ist während der Corona-Zeit um 11,5% gesunkenobwohl viel mehr Menschen Rad gefahren sind. Auto-verzicht rettet Leben.