Gastbeitrag von Pascal Morgan
Es geht heiß her. Ich sehe sehr, sehr viele Timeline-Debatten auf unterschiedlichen Plattformen mit Pro vs. Contra, teils hitzig geführt, unglaublich polarisiert und unversöhnlich – und doch scheitern sie alle an einem: Dem Virus.
Es lässt sich nicht wegdiskutieren, nicht leugnen oder ignorieren. Da helfen keine “alternative Fakten”, keine Abwägungen zwischen “an dem Virus” oder “mit dem Virus” verstorben, keine relativierende Durchseuchungsprognosen oder schlichte Vergleiche mit etablierten saisonalen Grippewellen. Das Virus ist real. Es tötet direkt. Es tötet indirekt. Und es schafft Umstände, in denen Menschen sterben, indem es wertvolle medizinische Ressourcen bindet und andernorts entzieht.
Hierzu gibt es eine Vielzahl an Studien und wissenschaftlichen Ausarbeitungen – und wir sind erst am Anfang, alles zu begreifen und doch mit Hochdruck schon unterwegs, intensiv zu forschen und dagegen zu kämpfen. Und ja, wie in jeder Debatte gibt es “alternative” Wissenschaftler, marginale Positionen, laute politisierte Stimmen, die durch soziale Medien verzerrt große Aufmerksamkeit bekommen, Unsicherheit schüren, Verwirrung stiften, und letztlich durch Polarisierung an der sozialen Kohäsion rütteln.
Es gibt die Groben wie Wolfgang Wodarg, die alleine aus wissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar widerlegt werden können, oder die Subtilen wie die Heinsberg Studie und StoryMachine, die wissentlich oder unwissentlich einer politischen Narrative folgen, es gibt die Verwirrten wie die Berliner Hygiene Demo, wo sich linke und rechte Verschwörungstheoretiker, obwohl unvereinbar, sich einträchtig die Hände halten und eigenartiger Weise sich desselben Vokabulars bedienen, es gibt die politischen Taktierer, die kaum erste Massnahmen der Bundesregierung angekündigt schon eine Lockerungsdebatte medial anstoßen, obwohl wir zwei Wochen warten müssten, bevor belastbare Ergebnisse vorliegen, denn es könnte sein, dass es hilft, sich damit für einen (jetzigen oder zukünftigen) Parteivorsitz zu profilieren… the list goes on.
Es wird unübersichtlich. Jeder hat eine Agenda. Und eine Meinung. Die explosionsartige Zunahme an sogenannten Experten erschrickt. Ich frage mich zuweilen, was das Virus auf seiner eigenen Pressekonferenz sagen würde – vermutlich etwas wie: “Ich suche nur nach dem effizientesten Weg, mich auszubreiten.” Eine fragmentierte, polarisierte, in sich uneinige Gesellschaft mit inkonsequenten oder widersprüchliche Massnahmen ist doch der beste Nährboden dazu.
Was wir als Bürger tun können? Lesen. Zuhören. Vorurteilsfrei recherchieren. Mit Menschenverstand.
Denn wie gesagt: In allem, was diskutiert wird und uns vermeintlich stört von Einschränkung der Bürgerrechte, Bevormundung, wirtschaftlichen Verlusten und sozialer Ungerechtigkeit – zum Teil valide Punkte, die es aufmerksam zu beobachten und diskutieren gibt – bleibt eines: das Virus.
Eine liebe Freundin von uns hat vor Kurzem ihren Vater an Corona auf eine sehr unmenschliche Art verloren. Eine junge Kommilitonin einer anderen Freundin war ernsthaft erkrankt. Das sind Fakten, die realer nicht werden können. Und wenn wir dieser Tage in die Krankenhäuser schauen, mit den vielen Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern sprechen, werden wir ihre Realität auch nicht leugnen können.
Es sind Realitäten, die traurig machen. Auf ein weiteres Mal erkennen wir, wie z.B. in den USA schwarze Männer und Migranten mexikanischer Abstammung auffällig stark betroffen sind. Eine nüchterne Ursachenforschung wäre vielleicht aufschlussreich, gesellschaftliche Disproportionen sichtbarer zu machen. Oder hierzulande wie Alleinerziehende – fast ausschließlich alleinerziehende Frauen, die wiederum überproportional in prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen leben, einerseits durch die Auswirkungen von Krankheit grundsätzlich stärker belastet sind, aber auch andererseits durch die Kita- und Schulschließungen besonders hart getroffen werden. Ist die schnelle Öffnung der Bildungseinrichtungen darauf die richtige Antwort – oder braucht es andere Maßnahmen? Wie reagieren wir auf eine zweite Welle der Infektionen, sollte sie kommen? Oder geht es mehr darum, wie wir uns als Gesellschaft aufstellen bezüglich Infrastruktur, globale Herausforderungen, Digitalisierung und solidarischer Unterstützung derjenigen, die es am dringendsten brauchen? Es geht uns alle an.
Ja, es ist eine sehr persönliche Belastung. Ich kann das mit drei kleinen Kindern und beruflichen Commitments sagen, dass es eine organisatorische “Hölle” ist, die die ganze Familie emotional herausfordert – aber nicht vergleichbar mit der Hölle auf der Intensivstation und nicht vergleichbar mit den Umständen, die wir haben werden, wenn wir sorglos und relativierend damit umgehen.
Unsere Aufgabe wird es meines Erachtens sein, uns aufzuklären, zusammen zu halten, mit offenen Herzen für unsere Mitmenschen da zu sein, weniger zu polarisieren, mehr Verständnis zeigen, ruhig bleiben und entschlossen handeln. Es ist bereits so viel “Dynamik” in allem – da wollen wir nicht noch Öl ins Feuer gießen.
Und noch eines: Meditieren hilft mir, in diesen Zeiten möglichst klar und verwurzelt zu bleiben – just my personal two cents. Wenn wir nicht auf uns selbst achten, wie können wir für andere da sein.
Bleibt gesund – eine virtuelle, herzliche Umarmung an alle und für uns selbst.
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