Jede bessere Buchhandlung hat auch ein Regal mit Lyrik. Da stehen oben die Bände mit den deutschen Klassikern, sofern sie mindestens 500 Jahre tot sind und keinem mehr weh tun können: Goethe, Schiller, … Die verkaufen sich anscheinend immer, und sei es als vergeblicher Versuch von Bildungsbürgern, wild Pubertierenden deutsche Kultur näher zu bringen. Was mit diesem Material ungefähr so erfolgreich sein dürfte, wie ihnen die Odenwaldhölle als In–Location schmackhaft zu machen. Vielleicht verkaufen sie sich aber auch gar nicht und stehen nur da, weil sie halt da stehen müssen.

Maulhure Nr. 1Drunter steht dann fast überall die „Reim dich oder ich fress dich“-Lyrik. Das gesamte Spektrum von religiöser Tageslosungen bis hin zu esoterischer Sinnsuche. Herzzerreißend illustriert mit Sonnenuntergängen und Tier-Baby-Fotos.  Verkauft sich anscheinend gut, das Zeug. Oder die BuchhändlerInnen bekommen ne fette Provision allein fürs Ausstellen.

Echte Lyrik findest du in Buchhandlungen nicht. Weder einen Jandl, einen Fausner, noch eine Jellineck, und schon gar keine Gioconda Belli.  Wer in deutschen Buchhandlungen moderne Lyrik finden will, muss in die Musik-CD Abteilung gehen.

Auch sonst drängt sich moderne Lyrik nicht gerade auf. Im Gegenteil: Es ist echt schwer, über normale Medien überhaupt mit Lyrik in Berührung zu kommen.

Die „Maulhure“ ist die Gegenthese zu den schwülstigen Schmuddelecken des deutschen Bildungsbürgertums. Sie nennt sich selbst „underground literature magazin“  und sie gibt den  wiederborstigsten, den gescheitertsten und den absonderlichsten Typen der gegenwärtigen deutschen Lyrik eine Möglichkeit, ihr textlichen Absonderungen zu veröffentlichen.

In der Maulhure  versammelt sich – auf je rund 100 Seiten  und „in zwangloser Folge“ (zwei Ausgaben seit 2010 und eine Dritte für 2014 im Druck) Texte und Autoren, die jeder kommerziell denkende Verlag als „kommerzieller Selbstmord“ ablehnen würde. Nicht weil sie schlecht sind-  sondern allein, weil sie den Anforderungen des Marktes nicht entsprechen: Weder sind die Autoren irgendwie B-, C- oder D-Promis, noch entsprechen die Texte in Form oder Inhalte den Erwartungen des zahlungskräftigen und kulturell willigen Bürgertums (s.o.).

UMaulhure Nr. 2 nd ja, in der Maulhure finde ich durchaus Texte, die ich in jeder anderen  Kunstform freigiebig mit dem Wort „Müll“ belegen würde. Zum Beispiel, weil sie sprachlich dem eigenen Anliegen nicht gerecht werden. Weil sie alles ignorieren, was mir in Deutschunterricht, Journalismus und Erziehung als gut, richtig und schön eingebläut wurde. Kruden Wort- und Satzkonstruktionen, die den gesunden Sprachverstand herausfordern. Nach einem Lektor schreien, ja, mir suggerieren, sogar ich könne das angemessener, treffender, besser ausdrücken (was ich natürlich definitiv nicht kann).

Also alles Schrott?

Wenn ich ehrlich bin: Nein!

Erstens gibt es in der Maulhure echte sprachliche Perlen und genial treffende Texte. Zweitens sind es gerade einige von den richtig krummen Texten, die mich trotz meines Impulses, sie nicht freiwillig in der Kategorie „Lyrik“ willkommen zu heißen, berühren, emotional ansprechen oder inspirieren. Mehr als andere (etablierte) Lyrik, die zwar meist gekonnter und kunstfertiger rüberkommt –mich aber oft nicht erreicht. Und trotz meines anfänglichen Wiederwillens muss ich feststellen, das mir die Lektüre der Maulhure ein echtes Vergnügen bereitet.

Doch abseits des Unterhaltungsfaktors: Ist das auch Kunst?

Da Kunst ein umstrittener, ja, ich kann mit Recht behaupten, subjektiver Begriff ist, kann nur ein Vergleich mit bereits “etablierter” Kunst  weiterhelfen: Indem ich einen beliebigen (ernsthaften) Lyrik-Sammelband aus dem Regal greife – von einem renommierten Literatur-Verlag. Und dessen Texte mit denen der Maulhure vergleiche.

Erschütterndes Ergebnis: Ich begegne dort überwiegend Texten, die mir absolut gar nichts sagen. Nix. Kopf-Lyrik ohne Bezug zu meinem Leben, Fühlen, Denken. Die auch sprachlich wenig originelles zu bieten haben. Ein Text von zehn triggert in mir vielleicht etwas, das tiefer geht als die Gedichtanalyse im Mittelstufen-Deutsch Kurs eines durchschnittlichen humanistischen Gymnasiums.

Anders in der Maulhure: Dort kann ich in fast jedem zweiten Text etwas Vertrautes identifizieren. Und auch sprachlich blitzt in der Maulhure immer wieder Genialität auf.

Echte Lyrik kann halt nicht an Universitäten gelehrt, an aufgeräumten Schreibtischen entworfen, von gesättigten, ausgeglichenen Menschen geschrieben werden. Echte Lyrik entsteht auf der Straße, in extremen Situationen, aus schrägen Gefühlen. Es mögen noch ungeschliffenen Steine sein, die die Maulhure da veröffentlicht, aber ich habe – für mich – ein paar Edelsteine darunter entdeckt, die Lust auf mehr machen.

Klar: Was mich anspricht, mag anderen nichts bedeuten. Was mich nicht erreicht, mag dich zutiefst berühren. Lyrik ist sicherlich die subjektivste aller Künste.

Gerade das macht die Maulhure aber spannend. Hier wird Lyrik nicht nach den Gesetzen des Marktes oder den persönlichen Vorlieben eines Lektors oder Literatur-Professors ausgewählt, sondern  in einem (nicht-elektronischen) sozialem Netzwerk. Das ich – zum Glück – kennenlernen konnte, weil sich einer der Herausgeber in Darmstadt auf Kulturveranstaltungen herumtreibt.

Ein echtes Overstatement ist jedoch der Untertitel “underground literature magazin”. Nur weil die Autoren vom etablierten Literatur- und Kulturbetrieb noch nicht  anerkannt sind, werden sie noch lange nicht verfolgt oder müssten ihre Werke unter der Hand weiterverbreiten. Auch liegt der Maulhure kein Gegenkonzept oder Programm zugrunde, das den Literaturbetrieb revolutionieren will. Und die in den Texten gelegentlich auf blitzende Gesellschaftskritik ist keineswegs so radikal, dass sie nicht auch in den Mainstream-Medien längst eine Nische gefunden hätte. Divergenz vom Mainstream macht aber noch lange keine Underground – auch wenn sich das natürlich cool anhört, solange man nicht drüber nachdenkt. Hier würde ich mir von den Herausgebern die selbe sprachliche Kreativität wünschen, die sie beim Titel gezeigt haben.

Ach ja: Die Maulhure enthält nicht nur Lyrik, sondern auch Prosa – meist in Form von Kurzgeschichten.

Für mich persönlich entdeckt habe ich durch die Maulhure-Lektüre die folgenden Wort-Artisten, bei denen ich das Potential zu „mehr“spannendem  Material sehe und nach denen ich in Zukunft Ausschau halten werde:

  • Susann Klossek
  • Benedikt Maria Kramer
  • Ni Gudix
  • Urs Böke
  • Jörg Herbig
  • Frank Bröker
  • Jerk Götterwind
  • Florian Günther
  • Marcus Mohr
  • Sybille Lengauer
  • Stefan Heuer

Meine persönliche Favoritenliste nach zwei Ausgaben Maulhure. Bin gespannt auf die Nummer 3.

Wer dem Abenteuer Lyrik und „Maulhure“ folgen möchte, kann zukünftige Ausgaben unter www.undergroundpress.de ordern. Ältere Ausgaben sind im Handel nicht mehr erhältlich, ich stelle für brennende Interessenten aber gern Kontakt zu den Herausgebern her, die noch einzelne Exemplare haben.

 

Siehe auch: Weitere Beiträge in den Kategorien

Ist das Kunst, oder kann das weg?
Lyrik

 

Keinen Neun-mal-Sechs Beitrag mehr verpassen: Das E-Mail Abo nutzen.