Am kommenden Wochenende, 19.-20.5.2012, findet in Gernsheim der Landesparteitag 2012-1 der Piraten Hessen statt. Auf diesem Parteitag soll überwiegend das Parteiprogramm für die kommende hessische Landtagswahl diskutiert und beschlossen werden. Obwohl ich kein Mitglied der Piratenpartei bin, werde ich über große Strecken daran teilnehmen. Aus drei Gründen:
1.) Ich habe im letzten Jahr als Nicht-Mitglied (sog. „Freibeuter“) im AK Bildungspolitik der Piraten Hessen mitgearbeitet und möchte natürlich miterleben, wie unsere Anträge diskutiert und ob sie beschlossen werden. Mehr zu diesem spannenden Jahr und den Anträgen unten.
2.) Ich bin neugierig und möchte endlich mal live erleben, wie so ein Piratenparteitag abläuft.
3.) Ich will hier und auf Twitter, Facebook, G+ und Diaspora über meine Eindrücke, Erlebnisse und Schlussfolgerungen berichten (der Journalist in mir erwacht mal wieder).
Dieser Artikel soll zum einen der Vorschau dienen, aber auch Transparenz darüber herstellen, wie ich zu den Piraten stehe – schließlich bin ich kein objektiver Berichterstatter und bezweifele auch grundsätzlich, dass „Objektivität“ möglich ist (aber das ist eine andere Diskussion).
Fangen wir damit an: Nachdem ich mich nun schon sehr lange lange mit Politik beschäftige, habe ich die Piraten erstmals im Landtagswahlkampf 2009 kennengelernt (von ihrer Gründung hatte ich nichts mitbekommen – soviel zur Qualität der Berichterstattung der traditionellen Presse) und war positiv überrascht von dieser neuen Partei. Zum einen weil sie eine neue und gänzlich un-ideologische Herangehensweise gegenüber der Politik mitbrachten, die sich dadurch auszeichnete, dass sie sowohl idealistisch und zugleich doch pragmatisch war (also ganz auf meiner Linie). Zum anderen aber auch dadurch, dass ihre gewählten Vertreter und Kandidaten vernünftig und klar denkende Menschen zu sein schienen, weder Egozentriker noch Spinner, wie ich sie bei anderen Kleinparteien in der Vergangenheit immer erlebt habe (insbesondere in meiner Konstanzer Zeit habe ich öfter über solche Gruppen geschrieben).
So habe ich ihre Aktivitäten in der folgenden Zeit aktiver beobachtet (sowohl über das Netz als auch vor Ort in Darmstadt) und als ich vor rund einem Jahr von der Gründung des Arbeitskreis Bildung hörte, bot ich dort meine Mitarbeit an. Schließlich beschäftige ich mich seit nun mehr 30 Jahren mit Bildungspolitik, habe selbst einen Sohn in System und bin, wie die meisten Hessen mit der aktuellen Bildungpolitik im Land extrem unzufrieden.
Ich wurde im AK äußerst freundlich aufgenommen und ich habe dort ein spannendes Jahr mit durchaus kontroversen, spannenden und teilweise heftigen Diskussionen erlebt, die jedoch fast immer konstruktiv endeten. Die einzige Ausnahme bildete der bedauerliche Ausschluss eines Mitgliedes, das ständig versuchte, dem AK seine Themen aufzuzwingen und dabei regelmäßig andere Mitglieder mit abstrusen Beschuldigungen und Beleidigungen konfrontierte. Produktiv waren wir auch – wir haben insgesamt 43 Programm-Anträge produziert, die wir nun auf dem LPT zur Abstimmung stellen.
Reaktion auf Twitter dazu:
Bevor ich dazu komme, jedoch erst einmal: Wie funktioniert so ein Parteitag bei den Piraten? Denn selbst wer Parteitage anderer Parteien kennt, muss feststellen, das die bei den Piraten anders ablaufen. Zunächst einmal sind die Parteitage der Piraten öffentlich – solange vom Parteitag nicht anders beschlossen, kann jeder Mensch daran teilnehmen (also auch ich). Von den 1695 Mitgliedern der Piraten in Hessen haben sich bisher 150 angekündigt (von weiteren unangekündigten Teilnehmern ist jedoch auszugehen). Stimmrecht haben alle Mitglieder, die ihren Mitgliedsbeitrag auch bezahlt haben (bei anderen Parteien werden in den Regionalverbänden Delegierte gewählt).
Viele Informationen zum Landesparteitags sind für alle Hessen im Piraten-Wiki öffentlich abrufbar. Im Gegensatz zu anderen Parteien gibt es keine Leitanträge, die vom Vorstand eingebracht und bevorzugt behandelt werden. Im Gegenteil: Jedes Mitglied kann Anträge stellen und diese sind öffentlich einsehbar. Über das Vorgehen und die Reihenfolge der Diskussion und Abstimmung entscheidet auch der Landesparteitag. Bisher wurden 131 Anträge eingereicht.
Im Gegensatz zu anderen Parteien reichen nicht 50%, um zum Teil des Landesprogrammes zu werden, sondern sie müssen eine 2/3 Mehrheit bekommen. Das macht es besonders schwierig, einen Programmpunkt durchzubekommen.
Piraten, die nicht selbst teilnehmen können, können den LPT über Video-Livestreams verfolgen:
http://tinyurl.com/8y26gvm (Samstag)
http://tinyurl.com/6pe5ktj (Sonntag)
Viele Teilnehmer werden auch über die verschiedenen Social Media Kanäle berichten. Auf Twitter ist der Hash-Tag #help12.
Zu den Anträgen:
1. Bildung
Von den 43 Programm-Anträge des AK Bildung sind 30 Konsens-Anträge. Das heißt, hier hat der AK in langen Diskussionen Positionen erarbeitet, die von allen AK Mitgliedern mitgetragen werden. Hier wurden zwischen den im AK vertretenen Richtungen viele Kompromisse geschlossen, um gemeinsam getragene Positionen zu ermöglichen. Der LPT hat die Möglichkeit über Zustimmung zu Antrag 1.23 PA-023: Neues Bildungsprogramm für die Piratenpartei Hessen diese Punkte als einen ganzen Block am Stück zu verabschieden. Einerseits würde das viel Zeit und Diskussion sparen. Andererseits enthält dieser Block viele Anträge und Formulierungen, über die sich noch vortrefflich und bis ins kleinste Detail streiten lässt- der LPT könnte sogar alle Diskussionen aus den AK -Treffen des letzten Jahres noch einmal wiederholen. Allein wie sich der LPT hier entscheidet ist schon spannend und wird den Parteitag wesentlich prägen.
Richtig interessant wird es allerdings bei den Anträgen PA-055 bis PA-070 sowie PA-120. Hier sind die Themen, die im AK nur eine Mehrheit auf sich vereint haben oder zu denen sogar zweit oder drei Alternativanträge bestehen. Hier geht es um Themen wie (eine Auswahl / in Klammern meine persönliche Abstimmungs-Empfehlung):
- Abschaffung des Sitzenbleibens ( PA-055, Alternative 1)
- Wahl des Schulleiters und Zusammensetzung der Gremien (Demokratisierung der Schule) ( PA-056, Alternative 2)
- mehr-gliedriges Schulsystem( PA-060, Alternative 1)
- „Selbständigen Schulen“( PA-061, Alternative 1)
- Standardisierungen, zentrale Prüfungen oder andere Kontrolle von Bildung ( PA-062, Alternative 1)
- Klassenverband versus Kurssystem( PA-063, Alternative 3)
- G8 / G9( PA-064, Alternative 1)
- Abschaffung von Noten ( PA-065, Alternative 2)
- Lehrer: Beamte oder Angestellte? ( PA-070, Alternative 3)
- Schule ist überwachungsfreier Raum ( PA-078, Alternative 3)
- Freie Schulen (PA-120, Ja)
Weitere (wie ich finde) spannende und unterstützenswerte Themen:
2. Demokratie
- Senkung des aktiven Wahlalters auf 14 Jahre /12 Jahre / Geburt (Ja, Ja, Nein)
- Ablehnung des Extremismusbegriffs (schwach formuliert und begründet, aber inhaltlich richtig)
- Mehr, transparentere und direkte Demokratie (PA 103 E, PA 103 F2, PA 103 G – aber ohne 01 – Wahlcomputer lehne ich grundsätzlich ab )
- Ablehnung von PPP (Bevorzugt: Alternative 3)
- Gesetzestexte dürfen nicht von Lobbyisten geschrieben werden
- Nachhaltige Wirtschaftspolitik
- Beseitigung von Monopolen und Oligopolen
- Transparenter Wirtschaftsstandort Hessen
- Globalisierung und Regionalisierung
- Keine Zwangsmitgliedschaft in der IHK
- Evolution der Ökonomie und Sandboxprinzip
- Offenlegung der Ausgaben für Landesvorhaben und der dazugehörigen Verträge
- Demokratische Teilhabe bei budgetrelevanten Investitionen
- Transparente Informationen über Großprojekte
- Fraktionsfinanzierung begrenzen
- Finanztransaktionssteuer
- Bürgschaften
- Schuldenfreies Hessen
- Steuerpolitik
- Staatsleistungen an Kirchen beenden
4. Sonstige
- Asyl- und Migrationspolitik
- Abschaffung der Optionspflicht und Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts
- Whistleblowerschutz
In den Programmentwürfen steckt natürlich noch mehr spannendes und Diskussions-würdiges, aber das würde diesen Beitrag sprengen. Aber schaut mal rein.
Falls ich Lust auf mehr gemacht habe, fahrt selbst in Gernsheim vorbei , oder lest, was ich am Wochenende so berichte.
[Alle Bilder auf dieser Seite sind übrigens vom Neujahrsempfang der Piraten Hessen in Darmstadt]