Zwei fiktive schulische Beurteilungen aus der Grundschule. Beachtet die Preisfrage am Schluss.
Version 1:
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Hans-Jürgen ist ein wacher, aufmerksamer Schüler. Sein Bewegungsdrang macht es ihm jedoch schwer, im Unterricht still zu sitzen und sich auf die Inhalte zu konzentrieren. Er neigt dazu abzuschweifen und sich Unterrichts-fremden Dingen zu widmen.
Seine Aufgaben bearbeitet er (auch unter Druck) fast immer vollständig, jedoch meist ungenau und oberflächlich, was zu vielen Fehlern führt.
Beim Lesen erfaßt Hans-Jürgen die wichtigen Aussagen eines Textes oft nicht. Nicht verstandene Teile ersetzt er beim Nacherzählen durch eigene Vorstellungen.
Beim Vorlesen liest er langsam und fehlerhaft, kann jedoch hinterher das Gelesene wesentlich besser nacherzählen.
Hans-Jürgen schreibt langsam und stockend, es bereitet ihm viel Mühe. Schon beim Abschreiben von Texten macht er viele Fehler, die sich beim Diktat im normalen Maße steigern. Aufällig ist dabei, dass er oft Worte falsch schreibt, die er auch schon korrekt geschrieben hat, neue Worte dagegen oft richtig schreibt. Ein Zusammenhang mit einer Konzentrationsschwäche ist daher naheliegend.
Kurze Text und vor allem Lieder lernt Hans-Jürgen gern und überraschend schnell auswendig. Dabei ist er auch mit hoher Konzentration bei der Sache.
Ich habe den Eindruck, Hans-Jürgen ist vor allem ein auditiver Lerntyp. Ich werde daher im nächsten Halbjahr verstärkt darauf achten, mit ihm an seinen Schwächen gezielt über auditive Vermittung zu arbeiten.
Das kann von ihm unterstütz werden, indem er viel laut liest. Ich empfehle, mit häufigen kurzen Einheiten (10 min) zu beginnen und die Dauer erst langsam zu steigern, um die Konzentration ohne Frust zu steigern. Dabei sollte er langsam und sorgfältig lesen.
Beim Schreiben könnte er mit zuvor Auswendig gelernten Passagen beginnen oder immer wieder einzelne Worte wie Vokabel auswendig lernen und buchstabieren.
Ich glaube auch, dass ihm mehr – bewegungsintensiver – Sport gut tun würde. Schön wäre es auch, wenn er vor dem Unterricht etwas Bewegung bekommen könnte. Zum Beispiel wenn er (zumindest eine Teilstrecke) zu Fuß zur Schule laufen würde, statt mit Auto gebracht zu werden.
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Version 2:
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Preisfrage:
Welcher Version ist präziser und motivierender für Hans-Jürgen?
Noten sind eindimensional, subjektiv, ungerecht und assozial. Sie sind der primitive Versuch, die komplexen Vorgänge des Denkens, Lernens, Sozialverhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung auf ein [meist: diskretes] Nummernspektrum zwischen 1 und 6 abzubilden. Keine halbwegs intelligente Person könnte das bei objektiver Analyse für angemessen halten. Trotzdem hängt fast das ganze Leben der Deliquenten davon ab.
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Kinder sind keine Fässer, die gefüllt,
sondern Feuer, die entfacht werden wollen.
(Rabelais, 1490 – 1553)
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#1 by Thomas on 21. November 2011 - 21:24
Klasse Artikel. Genau das macht den Unterschied deutlich. Auch wenn dies fiktiv war, habe ich genau solche und ähmnliche Bewertungen (allerdings mit besserem Ausgang für meine Jungs) miterleben müssen. Das spiegelt auch das Engagement der Lehrkraft wieder. Eine Zahl aufzuschreiben ist einfach, die schriftliche Beurteilung erfordert viel Arbeit.
#2 by Peter on 25. November 2011 - 21:46
Lesenswerter neuer Beitrag! Ich werde da noch mal nachhaken!
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