Gastbeitrag von Bernd Sowa, Adolf-Reichwein-Schule Marburg
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Der Zweck des Unterrichts ist es, Schüler zu bilden und auszubilden. Sollte das gelingen, dann war der Unterricht gut. Das klingt ganz einfach, ist es aber nicht, denn das Problem liegt in der Eigenart des Begriffs “Bildung”. Man muss sich also zunächst die Frage stellen, was ist Bildung und worin unterscheidet sie sich von Ausbildung? Bildung ist anders als Ausbildung, nämlich keine abhängige Variable. Sie erhält ihren Stellenwert also nicht, weil es technischen Fortschritt gibt oder weil es einen europäischen Arbeitsmarkt gibt und wir die Schüler darauf vorbereiten müssen. Bildung ist mehr.
Bildung definiert sich aus sich selbst heraus; sie hat einen menschlich-kulturuellen Eigenwert. Wichtiger als die Frage „Wie geht es?“ ist also die Frage „Worum geht es?“. Es geht bei Bildung immer um die soziale und kulturelle Menschwerdung. Sie enthält Momente der Selbstbestimmung, des Fleißes, des Mutes, der Leistungsbereitschaft und nicht zuletzt der sozialen Verantwortung. Schüler sollten im guten Unterricht eine eigene Meinung bzw. Haltung entwickeln, begründen und vertreten können. Sie sollten zu Persönlichkeiten werden, die Identität und Ich-Stärke entwickeln, um nicht angepasst sein zu müssen. Sie sollten den Mut haben „Nein“ zu sagen, wenn sie davon überzeugt sind, dass etwas falsch ist – auch wenn die ganze Klasse und der Lehrer dafür sind. Genau wie Soldaten in der Ausbildung lernen müssen, dass es Befehle gibt, die man nicht ausführen darf, muss guter Unterricht in jedem Fall den Widerspruch thematisieren. Kurz gesagt, guter Unterricht müsste Schüler zum selbstständigen mündigen Denken und zur mündigen Lebensgestaltung befähigen. Das ist viel mehr und vor allem viel wichtiger als die inzwischen modern gewordene Reduktion der Bildung auf den Kompetenzbegriff.
Natürlich sind Kompetenzen wichtig, ohne sie ist Unterricht gar nicht möglich. Aber auch der gute fachliche Unterricht wird eben genau nicht von seinen Arbeitsverfahren her oder von seinen Methoden her gedacht. Im fachlichen Unterricht geht es darum, die fachlichen Kenntnisse zu dem Bildungsoberziel „Mündigkeit“ kritisch in Beziehung zu setzen. Das reine Vermitteln von Stoff darf also niemals Selbstzweck sein, sonst wäre Unterricht im besten Falle ein Kompetenzvermittlungskurs, nicht aber guter Unterricht. Genauso irrtümlich wäre es, den einzelnen Fächern und Lernbereichen abgrenzend spezifische Ziele zuzuordnen, etwa in dem Sinne, dass in Mathematik „Wissen“ gelehrt wird und in Politik, Ethik oder Religion „soziales Empfinden“ vermittelt werden soll. Es geht also niemals nur um reine Fähigkeitsvermittlung, also beispielsweise nicht nur um Lesefähigkeit, obwohl die besonders wichtig ist, oder um fremdsprachliche Kompetenz, sondern immer auch um Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen, um Verantwortung, um Hellhörigkeit für Lebensfragen. Bildung ist also das, was noch übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat, was man früher in der Schule gelernt hat.
Guter Unterricht ist eine komplexe Angelegenheit und kann nur gelingen, wenn Lehrern der gesetzlich verankerte pädagogische Freiraum ermöglicht wird, um spezifische Neigungen und Fähigkeiten der Lerngruppe auszuloten, um daran anknüpfen zu können. Der Lehrer sollte seine Klasse im Lernprozess begleiten, aber auch leiten. Das wäre pädagogische Arbeit. Dem gegenüber steht die Forderung der Wirtschaft, Kinder als Investition in die Zukunft zu verstehen. Bildung wird nicht als das Wahre beschützt, sondern auf eine Ware reduziert. Bildung wird aus der Sicht des Staates, genauer dem KM, eben nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der das Individuum zu Selbstständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigen sollte; Bildung – sie nennen es nun Bildungsstandard – figuriert nur noch als gesamtökonomischer Produktionsfaktor.
In diesem nur vordergründig funktionierenden Verständnis weitergedacht, würde sich der Unterrichtsprozess dann nur noch darin erschöpfen, Ergebniserwartungen (Standards) und deren Überwachung (Evaluation) zu gewährleisten, um den Output zu erhöhen.
Allgemeine Bildungsziele können aber naturgemäß nicht in überwachungsfähige Standards verwandelt werden. Somit könnten jene zwar weiterhin formuliert und für pädagogische Feiertagsreden vorgetragen werden, in der Praxis aber würden sie ihre Bedeutung verlieren, denn Unterricht würde sich nur noch auf die outputrelevanten Kriterien beschränken. Der qualitativ hochwertigste Unterricht wäre dann der, der die vorher „freiwillig“ fest gelegten Ziele am besten erfüllt.
Wenn in die Schüler nicht investiert wird, weil sie Menschen sind, sondern weil sie möglichst verwertbar gemacht werden sollen, dann verbietet sich das nicht nur pädagogisch, sondern es widerspricht sogar dem allgemeinen Menschenrecht auf Bildung.[1] Damit ist klargestellt, dass guter Unterricht nicht auf reines Funktionieren im Wirtschaftsprozess zielen kann, sondern im Gegenteil deutlich hinaus reichen muss.
Unterricht soll Schüler bilden. Wie kann das am besten erreicht werden? Nun wären wir bei der Frage der Methoden angekommen. Es gibt natürlich nicht den guten Unterricht, oder die gute Methode, denn es gibt viele Methoden guten Unterricht zu machen. Es gibt offenen Unterricht, der sich vom offenen Chaos in nichts unterscheidet und es gibt schlechten Frontalunterricht, der öde und langweilig ist. Wenn es nur darum ginge, Kompetenzen zu vermitteln oder besser einzutrichtern, dann müsste man sagen, dass Frontalunterricht allen an deren Mätzchen im Unterricht überlegen ist. Das belegen sogar die Ergebnisse der Pisa-Studie jedes Jahr aufs Neue. Nicht jeder Lehrer kann aber einen optimalen Frontalunterricht machen, genausowenig wie jeder Lehrer einen optimalen „Offenen Unterricht“ machen kann.
Guter Unterricht soll Spaß machen, er darf aber nicht zur Spaßveranstaltung verkommen. Spaßverwöhnte, leistungsungeübte, medial zugemüllte, von der Glitzerwelt moderner Medien abgelenkte und übermüdete Schüler können den dargebotenen Lernstoff nur mangelhaft auf nehmen. Schüler brauchen keine Sturzbäche der Ablenkung, oder in jeder Sekunde ihres Lebens einen Internetzugang, sondern körperliche, geistige und soziale Herausforderungen! Lernen ist anstrengend und guter Unterricht muss deshalb anspruchsvoll sein. Wer sich „bilden“ möchte, muss die Mühe der Treppen auf sich nehmen. Mit „Blau machen“, „Abhängen“ und „Chillen“ wird sich mittlerweile in allen Schulformen durchs Schulleben gequält und sich vor den Anforderungen geflüchtet. Eine viel zu große Zahl von Schülern lässt sich unmotiviert und lethargisch im Lernfluss dahin treiben, sehnsüchtig auf das Wochenende wartend, um endlich in die Spaßgesellschaft abtauchen zu können. Auch wenn die Standfestigkeit des Lehrkörpers zurzeit kaum noch gefragt ist, sondern eher dessen Selbstverleugnung – guter Unterricht müsste dem Eskapismus etwas entgegen setzen. Wer je doch Schülern mühelos ein sicheres Überleben ermöglicht, darf sich nicht wundern, wenn Schüler sich nicht anstrengen wollen.
Im guten Unterricht führt der Lehrer und lässt gleichzeitig wachsen. Er greift ein, lässt aber auch geschehen. Was ist nun die richtige Erziehung? Auf das richtige Maß kommt es an. Jedes Fest legen oder jede dauerhafte Betonung einer der beiden Pole ist falsch. Der extrem autoritäre Stil, den meine Eltern noch erlebt haben, operierte mit Angst. Das funktionierte zwar, aber Unterrichtsergebnisse, die durch Angst zu Stande kommen, sind selbstverständlich tabu. Die Gefahr für unsere Schüler lauert heutzutage auf der anderen Seite. Der eher permissive Stil, der unser heutiges Unterrichtsverständnis geprägt hat und der es zu oft versäumt hat, Grenzen zu ziehen, Aggressionen und Unverschämtheiten ein klares Nein entgegenzusetzen, ist eine mindestens genauso große Gefahr für die Schülerseelen, weil er sich als Hemmschuh ihrer charakterlichen und psychischen Entwicklung erweist. Sind Eltern und Lehrer nicht bereit, das gesunde Autoritätsbedürfnis auszufüllen, werden sich unsere Schüler im schlimmsten Fall „neue“ Autoritäten suchen, die bereit sind ihnen diese zu bieten. Des wegen ist Konsequenz oder das von der Wunscherfüllungspädagogik erklärte Tabuwort „Strenge“ im Unterricht notwendig. Recht und Pflicht gehören zusammen. Der Lehrer, der sich nur noch als Partner oder Lerncoach versteht und die Pädagogik des „Alles dürfen und nichts sollen“ vertritt, ist eine schwache Figur und möchte sich beliebt machen, weil er nichts verlangt. Jugendliche brauchen aber starke charakterfeste Lehrer, die ihrem Ausweichen des „Hab keinen Bock!“ etwas entgegensetzen, damit sie daran wachsen. Sie brauchen Lehrer, die ganz einfach Vorbild sein können. Das gilt besonders in unserer vaterarm gewordenen Gesellschaft. Hier kommt besonders den männlichen Lehrern eine wichtige Funktion zu.
Zusammengefasst könnte man sagen – auf die Lehrer kommt es an. Hier liegt die Lösung. Es sind nicht die unendlichen Schulreformdebatten oder die Schulprogramme oder Hochglanzbroschüren über Schulprofile, die dem Schüler nützen; es sind die Lehrer, die sich für ihren guten Unterricht verantwortlich fühlen. Nicht der Medientaumel oder der Medienzauber sind wichtig, nein – es kommt auf eine wohldosierte Mischung aus Freiheit und Respekt und auf Ernsthaftigkeit an. Eine gute Schule braucht Lehrer, die Schülern gerne etwas erklären wollen, die etwas zu sagen haben und die nicht jeden Tag ihre Halbjahresentlastungsstunden addieren oder nach jeder gehaltenen Unterrichtsstunde von einer Abordnung ins Schulamt träumen.
[1] Art. 26 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte UNO