Sckgasse: Peter Turi hat Hans-Georg Häusel interviewed.Der Name „Peter Turi“ hatte für mich bisher einen guten Klang. Journalist, digitaler Vorreiter. Nicht, dass ich sehr viel von ihm gelesen habe, und natürlich habe ich ihm nicht immer zugestimmt. Aber was ich empfohlen bekommen hatte, klang meist vernünftig und durchdacht. Bis heute.

Dr. Hans-Georg Häusel kannte ich bisher nicht. Aber wenn jemand akademische Weihen hat und sich „Hirnforscher“ nennt, bin ich neugierig und höre gerne zu. Hat sich nicht gelohnt.

Was ist passiert? Peter Turi hat Hans-Georg Häusel interviewed. Und dieses Interviews veröffentlicht, um für seine neue Veröffentlichung „Print – Ein Plädoyer für Slow Media“ zu werben. Hätte er besser nicht getan.

Warum? Nicht alles was Hans-Georg Häusel da sagt, ist kompletter Unsinn. Einiges ist sogar richtig. Aber seine Äußerungen enthalten leider mindestens drei ganz grundlegende Falschaussagen:

1.) Hirnforschung sind längst darüber hinaus, pauschal von „das Kind“ oder „der Mensch“ zu sprechen. Denn es gibt ganz verschiedene Menschen, ganz verschiedene Arten und Weisen wie (unterschiedliche) Hirne Informationen verarbeiten und (nachgewiesen) sehr verschiedene Lerntypen. Unsere Print-fixierte Kultur hat bestimmte Typen immer bevorzugt.

Es gibt dazu Berge an Literatur und ein ernst zu nehmender Wissenschaftler sollte diese kennen und würdigen. Statt pauschale Statements von sich geben, die für bestimmte Lerntypen, bestimmte Kinder und bestimmte Menschen zutreffen. Jedenfalls, wenn er ernst genommen werden will.

Und ein guter Journalist sollte sich vor so einem Interview wenigstens ein klein bisschen in die Materie einlesen. Und wenigstens mal kritisch nachfragen, statt einen „Wissenschaftler“ mit so platten und pauschalen Behauptungen davon kommen zu lassen.

Jamiri: Das Geile an Print - jede Kommentarfunktion war von Natur aus dekativiert.

Jamiri: Das Geile an Print – jede Kommentarfunktion war von Natur aus dekativiert.

2.) Häusel berücksichtigt nicht, dass sich das Hirn durch Gewohnheiten und Erfahrungen verändert. Wenn er behauptet, der „Spannungszustand des Gehirns spricht gegen lange digitale Texte“, mag das für einige Leute gelten, für andere längst nicht mehr. Häusel begründet diese Behauptung mit einer sehr kleinen Fokusgruppe: „ich“ („Nur wenn mich etwas sehr interessiert, lese ich einen längeren Text online.“).

Viele Menschen, die seit langem – ich zum Beispiel seit 1992 – das Internet benutzen, sind längst daran gewöhnt, auch längere Texte am Bildschirm zu lesen, zu genießen, verarbeiten und zu teilen. Wir tun das täglich – mit Genuss. Eine nicht kleine Gruppe davon sind übrigens seine Kollegen: Fast alle WissenschaftlerInnen, die ich kenne, lesen gerade wissenschaftliche Papers überwiegend am Bildschirm. Texte mit meist mehr als 10 Din A4 Seiten Länge und mit hoher Informationsdichte (=“vertiefende Informationen“).

Genauso übrigens viele Programmierer. Wenn diese z.B. eine neue Programmiersprache lernen, dann nutzen sie dafür vor allem digitale Quellen. Auch White Papers und RFCs sind selten kurz und noch seltener simpel.

Dass aber auch ganz normale Menschen kein Problem damit haben, auch sehr lange Texte im Bildschirm zu lesen, belegt eindrucksvoll auch der kontinuierlich steigende Anteil von E-Books am Buchmarkt. Ganze Romane, aber auch Sachbücher, werden digital gelesen. Dazu kommt, dass Audio-Books, die definitiv der digitalen Welt zuzurechnen sind, eine ganz neuen „Lese“-Kultur entstehen haben lassen, die an Häusel (und Turi) offenbar komplett vorbei geht.

Interessant wäre natürlich auch gewesen, ob es Unterschiede zwischen Nutzern gibt, die mit Print aufgewachsen sind (wie Häusel, Jahrgang 1951) und denen, die seit ihrer Geburt mit digitalen Medien konfrontiert waren (wie z.B. mein Sohn, Jahrgang 2001). Aber auch hier leider unnötige Pauschalierung, wo Differenzierung angebracht (und wirklich spannend) wäre.

 

3.) Die Behauptung, dass mit digitalen Medien „keine vertiefende Information“ aufgenommen werde, ist jedoch nicht nur zu pauschal, sondern definitiv falsch. Print ist dagegen sind fast immer eine informative Sackgasse, die uns dem Autor ausliefert. Drei Beispiele, die zeigen, dass digitale Medien durchaus viel tiefere Einsichten liefen als (derzeitige) Print-Praxis:

a) Hätte ich mich beim Zuckerberg-Thema nur aus Print-Medien informiert, würde ich noch heute völlig falsch informiert herum laufen. Digitale Medien haben mir nicht nur ermöglicht, die Behauptungen der Presse zu hinterfragen und zu widerlegen. Sie ermöglichten mir auch, meinen Blog-Lesern Zugriff auf diese weiterführenden Informationen zu verschaffen (siehe Journalismus: Die Zuckerberg-Blamage). Dass die meisten Zeitungen in den Online-Ausgaben (geschweige denn im Print, wo solches auch möglich und zeitgemäß wäre) auf solche Verweise weitgehend verzichten, zeigt nur, dass sie noch nicht wirklich in der digitalen Welt angekommen sind.

I-Pads für Schulenb) Die Schulbücher meines Sohnes sind schlecht geschriebene Print-Sackgassen. Oft umständlich formuliert und schlecht erklärt. Schulbuchautoren sind leider überwiegend miese Schreiberlinge. Entweder du verstehst auf Anhieb, was sie dir mitzuteilen versuchen, oder gar nicht. Dazwischen gibt es meist nicht. Nicht nur mein Sohn scheitert gelegentlich daran, sondern auch ich. Und dann gehen wir ins Internet und schauen nach, wie das Thema dort erklärt wird. Und werden dort sehr schnell fündig. Sogar die Wikipedia erklärt verständlicher (wenn auch manchmal zu wissenschaftlich für die Mittelstufe) als die Schulbücher. Darüber hinaus gibt es dort viele Web-Seiten mit tollen, altersgerechten Erklärungen, Illustrationen und Übungen.

c) Ist der/die LeserIn eines Textes mit einem Wort nicht ausreichend vertraut ermöglichen digitale Texte einfach den Aufruf von Wörterbuch oder Ausprachehilfen. Bei modernen E-Book Readern sogar mit nur einem Mausklick. Das kann für nicht-Muttersprachler sehr hilfreich sein. Für Sprachunterricht, aber auch vor dem Hintergrund der Integrationsdebatte sollten solche digitalen Reader eigentlich längst Standard an deutschen Schulen sein (siehe meine Satire zum Thema aus dem Jahr 2012). Zumal die Produktionskosten für entsprechende Hardware nur noch gering über den Anschaffungskosten eines Schulbuches liegen.

 

Ich gebe zu, das Interview hat mich verärgert. Weil mich unprofessioneller Journalismus verärgert. Und weil mich unwissenschaftliche Wissenschaftler verärgern. Und die Kombination sowieso.

Aber vor allem: Weil sich verunsicherte Eltern, Lehrer und Politiker an solchen Pauschalurteilen und Halbwahrheiten orientieren. Was für Turi und Häusel nur (Selbst-)Marketing und Gedankenspiele in Elfenbeinturm sein mögen, hat hier draußen in der realen Welt ganz reale Konsequenzen. Eltern, die Verbote aussprechen, stundenlange Diskussionen mit ebensolchen Pauschalaussagen auf Elternabenden („das hat aber ein Hirnforscher herausgefunden“), Schulen die wichtige Medien-Anschaffungen verschleppen und Politiker, die den Schulen IT Budgets streichen.

Ich lese persönlich Krimis, Romane oder auch philosophische Texte lieber in einem gedruckten Buch, als am Bildschirm. Manchmal drucke ich mir einen Text aus dem Netz auch aus. Aber ich stelle meine persönlichen Vorlieben nicht undifferenziert als Ergebnisse der Hirnforschung dar. Ich habe selbst als Print-Journalist gearbeitet, bevor ich in die digitale Welt gewechselt bin. Ich bin sogar überzeugt, dass Print in bestimmten Situationen erhebliche Vorteile und Stärken hat (ich fördere Print ja selbst aktiv). Aber ich würde mich wirklich schämen, platte Statements wie „Wenn das Kind wirklich verstehen will, braucht es Print” (gar als Überschrift) in die Welt zu setzen.

Solche Texte ärgern mich aber auch, weil sie dazu beitragen, die Printmedien in ihrer falschen Selbstgewissheit verweilen zu lassen. Dadurch unterbleiben die dringend notwendigen Umgestaltungen, um auch im digitalen Zeitalter eine Existenzberechtigung zu haben. Und dann wird es in Kürze den Ruf nach Rettungspaketen und Subventionen geben – weil doch angeblich Kinder sonst nix mehr verstehen. Solche Interviews sind genau die Sackgasse, in die der Print-Jounalismus zur Zeit marschiert: Hier werden nur die Vorurteile gefüttert und verbreitet.

Ein Peter Turi sollte eigentlich genug journalistische Erfahrung haben, um die doch ganz offensichtlich zu platten Behauptungen eines Hans-Georg Häusel zu hinterfragen. Aber nicht ein einziges Mal fasst er kritisch nach. Weil Häuser sagt, was Turi hören / drucken will?

Und: Das Interview gleich mit drei (völlig Aussage-losen) Bildern von Häuser zu illustrieren, sieht auch mehr nach eine Marketing-Kooperation aus, als nach seriösem Journalismus.

Eines habe ich allerdings gelernt: Um Publikationen von Peter Turi werden ich zukünftig eine Bogen machen – egal ob digital oder in Print. Und kann jedem nur raten, das Gleiche zu tun.

 

Update: 20.9.2016: Mit freundlicher Genehmigung von Jamiri den Comic „Das Geile“ als Illustration hinzugefügt, der die Debatte um einen wesentlichen Punkt erweitert. Weitere Meisterwerke (Print!) von Jamiri gibt es hier.

 

Siehe auch:

Streitschrift gegen Bücher: Buchgemeinde, ihr werdet den Kampf verlieren!

In eigener Sache und in Sachen Turi (Stefan Niggemeier)

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