Alter römischer Autor

„Die Ideologie vom totalen Markt sorgt dafür, dass der Einzelne, gleichgültig an welchem Platz in der Gesellschaft er steht, dessen Zwänge unter dem Deckmantel der Selbstoptimierung und Eigenverantwortlichkeit, des Teamspirits und der flachen Hierarchien, der Flexibilität und Kreativität als schicksalhaft unentrinnbar erfährt.”

Norbet Niemann am 7.6.2015
in der FAZ

Seichte Kapitalismuskritik macht sich gut. Und solange sie nicht ans Eingemachte geht, kann sogar die FAZ sie drucken, ohne die Werbekunden zu verschrecken.

So auch Norbert Niemann, der in der FAZ die Ökonomisierung der Gesellschaft bejammert und die fatalen Auswirkungen auf die schreibende Zunft. Ein interessanter Artikel, aber ich stimmte nicht damit überein. Niemanns Kritik an der Ökonomisierung der Gesellschaft kann ich zustimmen – auch wenn sie gerade im Beispiel des Dorfes auch große Vorteile hat (s. z.B. die Diskussion zur Odenwaldhölle).

Aber: Es wird heute mehr Literatur produziert, mehr Literatur gekauft und mehr gelesen, als je zuvor. Und der Kapitalismus sorgt dafür, dass Autoren (in der Mehrzahl ind Deutschland) heute eine besser ökonomische Absicherung haben als je zuvor. Selbst Dichter müssen heute nicht mehr (ver-)hungern.

Und Niemann sagt ja selbst, dass es die literarischen Meisterwerke noch gibt. Und ich schätze (ohne es belegen zu können), dass sie sich heute im Schnitt besser verkaufen als „früher“ (hier fehlt mir im Artikel auch die Vergleichsmaßstab, den er ansetzt).

Und das von ihm beschriebene Phänomen, sich an Moden anpassen zu müssen, um einen Verleger zu finden, ist so alt wie der Literaturbetrieb. Habe ich gelesen. Aber darum geht es nicht. Niemann meint (leider implizit) etwas anderes – und um dass zu verdeutlichen, muss ich etwas ausholen:

Zunächst gilt es Grundsicherung und Erfolgshonoration zu unterscheiden.

Grundsicherung ist notwendig, damit Menschen den Sprung in künstlerische Aktivität wagen, ihre eigene Ausdrucksform unabhängig von der Nachfrage entwickeln können (alles andere ist künstlerische Prostitution) und nicht durch Existenzängste kreativ gehemmt werden. Künstler sind – vom Menschen-Typ her – in der Regel keine Unternehmer.

Historisch betrachtet sind die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland eine Basis, die ermöglicht, dass Künstler nicht mehr verhungern müssen. Das ist ein Fortschritt und die Grundlage überhaupt dafür, dass genug Menschen den Sprung in die Künste wagen.

Problematisch (und tatsächlich Kreativitäts- und Erfolgshemmend) ist die staatliche Gängelung, die mit dem Bezug dieser Leistungen verbunden ist. Das liegt auch und vor allem an einem Mangel an Toleranz für andere Lebensstile (oder altmodisch: Geschwisterlichkeit) und der regelmäßigen Hetze der Boulevard-Presse (vor allem vom Springer Verlag) und von Politikern der CDU und SPD gegen angeblichen „Missbrauch“. Hier wäre eine garantierte Grundsicherung ein großer Fortschritt (und vermutlich sogar günstiger).

Darüber hinaus sind solche Projekte wie das Künstlerhaus in Darmstadt sinnvoll um Kunst zu fordern. Selbst wenn das Konzept mangelhaft ist. Sowas schafft Freiräume und Diskussionen. Auch wenn man das Konzept sicher verbessern sollte.

Wer gesund ist und keine Abhängigen zu versorgen hat, findet in Deutschland eine Grundsicherung, die künstlerische Tätigkeit grundsätzlich ermöglicht. Auch wenn es nicht geringe Kräfte gibt, die versuchen, dass zu beseitigen. Wer jedoch Kinder oder andere abhängige Angehörige zu versorgen hat, für den reicht die real-existierende Grundsicherung fast nie aus. Aber das ist eine andere (wichtige) Diskussion.

Worum es Niemann aber scheinbar geht, ist die Erfolgshonoration. Niemann scheint – wenn auch nur implizit – die fehlende ausreichende Würdigung der Meisterwerke in den Leitmedien und in der Oberschicht zu bejammern. Hier hat tatsächlich ein Wandel vom Mäzenatentum zum Markt hin statt gefunden (wobei das Mäzenatentum ja nicht geringer geworden ist, sondern nur relativ an Bedeutung verloren hat). Künstler verlassen die Grundsicherung, weil ihnen nicht nur Einzelne, sondern viele Menschen Geld für ihre Ergebnisse bezahlen. Ich halte diesen Wandel – auch wenn es nicht meiner Idealvorstellung entspricht – durchaus für eine Verbesserung.

Ein Nachteil dieser Entwicklung ist allerdings, was die Kommunikationswissenschaft „Mainstreaming“ nennt: Während „früher“ die Medien und die Honorationen die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf wenige (vermeindlich „vorbildliche“) KünstlerInnen lenkten, müssen sie sich heute die Aufmerksamkeit mit denen Teilen, die den Massengeschmack treffen. Und das sind typischer Weise KünstlerInnen, die die bestehende Gesellschaft (und Kunst) reproduzieren (Stichwort: „Rosamunde Pilcher“), statt sie voranzubringen. Und damit die Gesellschaft im „Mainstream“ verharren lassen, statt sie weiter zu entwickeln. Insofern hemmt die Kommerzialisierung tatsächlich die geistige Weiterentwicklung der Gesellschaft.

Während sich Konservative wie Niemann deshalb den Schritt zurück zu „früher“ wünschen (ohne das zu definieren), wäre die spannendere Frage, wie eine so reiche Gesellschaft wie die unsere Kunst und Literatur Produktion organisieren kann, so dass intellektuelle und auch soziale Weiterentwicklung der Gesellschaft gefördert wird.

Das lässt sich staatlich machen (mit den bekannten Nachteilen) – und wird unweigerlich so kommen, wenn die die Verteilung der Vermögen weiter so offensichtlich falsch entwickelt, wie dass zur Zeit passiert. Dann stehen uns (aus ganz anderen Gründen) noch unruhige Zeiten bevor. In denen klassischer Sozialismus plötzlich wie eine attraktive Alternative erscheinen wird (aber auch das ist eine andere Diskussion).

Oder durch kluge Vordenker aus den Reihen der Besitzenden, die aufhören ihre Besitzstände zu verteidigen und statt dessen eine „geschwisterliche“ Gesellschaft entwerfen. Erste gute Ansätze dazu gibt es aus der Open Source Bewegung, von Internet-Pionieren, von den Piraten (als Bewegung). Ideen, die sich witziger Weise auf die gesellschaftliche Vision von Star Trek beziehen – und damit aus der Mainstream Kultur genau das schöpfen, was Niemann ihr pauschal abspricht.

Von den klassischen Eliten (a la Niemann) kommt zwar Kritik an den Auswirkungen des Kapitalismus – aber sie sind weder bereit ihn zu bekämpfen (sondern verteidigen die Besitzstände dann im Zweifel doch), noch liefern sie Entwürfe, die die Gesellschaft weiter entwickeln.

 

Siehe auch:

darmstadt-abo.de

Kunst & Kultur in Darmstadt stärken

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