Kommunalwahlen Hessen 2021

Direkte Demokratie ist ja ein populäres Schlagwort. Die Grundidee ist simpel und attraktiv. Statt Politiker:innen zu wählen, die über Gesetze entscheiden, werden alle Fragen von den wahlberechtigten Menschen selbst entschieden. Klingt attraktiv und gut.

Direkte Demokratie hat jedoch drei grundlegende Probleme:

Problem 1: Komplexität

Die meisten politischen Entscheidungen sind relativ komplex und ihre Folgen oft ungewiss. Die rechtlichen, technischen, witrschaftliche und sozialen Auswirkungen einer Entscheidung oft schwer zu durchschauen und noch schwerer zu beurteilen. Und oft ziemlich langweilig.

Selbst da wo es gelingt, eine Entscheidung auf nur zwei Alternativen zu reduzieren, holt die Komplexität die Erwartungen schnell ein. Nehmen wir den Brexit als Beispiel: Die britische Regierung hat ihren Bürger:innen die Entscheidung darüber, ob das Land in der EU verbleiben soll, oder nicht in die Hände einerVolksabstimmung gelegt. Die Befürworter eines Ausstiegs aus der EU haben knapp gewonnen. Doch: Ungeklärt bleibt, ob GB mit einen Vertrag aus der EU solle, oder ohne. Hätte die Abstimmung drei Alternativen abgefragt, wären die “Remain”-Anhänger wohl eine relative Mehrheit erreicht. Anders jedoch, wenn die Entscheidung zweistufig gefällt worden wäre: Erst ja oder nein, dann mit Vertrag oder ohne Vertrag. Aber selbst dann wäre ungeklärt, welche Aspekte im Brexit Vertrag wie geregelt werden.

Nachdem es nur eine binäre Entscheidung war (Ja oder Nein) haben die Briten jetzt einem Brexit mit Vertrag – mit dem die Mehrheit sehr unzufrieden ist: Die die keine Brexit wollten sowieso, und natürlich auch die, die unbedingt eine Brexit ohne Vertrag wollten. Aber darüber hinaus auch vielen von denen, die einen Brexit mit Vertrag wollten. Denn der geschlossene Vertrag entspricht nicht ihren Erwartungen. Eine Mehrheitsentscheidung hat die Mehrheit unglücklich gemacht. Ein Paradox?

Problem 2: Wissen

Gute Entscheidungen brauchen fundiertes Wissen – und wir haben in den letzten Jahren (Brexit, Corona, Trump) gelernt, dass es nicht nur schwierig ist, einen gemeinsamen Stand an Wissen herzustellen, sondern dass es nicht wenige Menschen gibt, die nicht davor zurückschrecken, Faktenwissen zu leugnen und völlig hemmungslos faktisch falsche Behauptungen in die Welt zu setzen, um politische Entscheidungen zu beeinflussen (oder / und Geld zu machen).

Je mehr Dinge die Menschen also direkt entscheiden können, desto stärker werden die Versuche werden, dass Wissen der Entscheider:innen zu manipulieren.

Problem 3: Vielzahl an Entscheidungen

In einer Demokratie müssen ständig eine Vielzahl von Entscheidung gefällt werden. Viele Aspekte des menschlichen Zusammenlebens wollen geregelt und voran gebracht werden. In einer einzigen Stadtverordnetenversammlung (StaVo) werden nicht selten 20 oder 30 Anträge behandelt. Und das ist nur die lokale Ebene – hinzu kommt die Landes- und Bundesebene und dann noch Europa. Selbst wenn diese vielen Entscheidungen von einer Verwaltung oder Ministerien vorbereitet werden – für eine sachgerechte Entscheidung muss man die Alternativen und ihre Konsequenzen verstehen.

Viele (nicht alle!) die eine direkte Demokratie fordern, haben dabei aber nur die großen Fragen im Sinn, die ihnen persönlich wichtig sind und beabsichtigen gar nicht, sich Woche um Woche – neben Job und Familie – in neue, komplexe Sachverhalte einzuarbeiten.

Die parlamentarische Demokratie soll diese Problem lösen: Hier werden Personen gewählt, die sich (theoretisch: Vollzeit) damit beschäftigen, das notwendige Wissen zu erwerben, um sich in die vielen komplexen Entscheidungen einzuarbeiten. Und Parteien sollen helfen, die richtigen Personen dafür (vor-)auszuwählen – führt aber auch dazu, dass es (vereinfacht gesagt) für den “normalen Menschen” dann am Wahltag nur noch die Auswahl zwischen 10 oder so fertigen Liste gibt und sich nur über die Verteilung der Stimmen auf, die Listen entscheidet, wie viele Personen der jeweiligen Liste ins Parlament kommen.

Das schafft jedoch eine Situation, die sehr, sehr weit von der Idee der direkten Demokratie entfernt ist.

Die Kommunalwahlen in Hessen (und einigen anderen Bundesländern) sind da schon etwas näher dran. Hier ist Gestaltungs-“Macht” der Parteien zumindest stark reduziert. Denn auch wenn die Parteien hier ebenfalls Listen aufstellen – diese Listen entscheiden keineswegs, welche Personen nachher im Parlament sitzen. Denn das Kommunalwahlsystem erlaubt, Personen explizit zu wählen – sogar mit mehr als einer Stimme. Und: Wir sind dabei nicht auf eine Partei beschränkt, sondern können unsere Stimmen über alle Parteien verteilen.

Ihr wißt das alles schon? Warum ich das nochmal extra schreibe?

Weil auch bei diesen Kommunalwahlen immer noch die überwiegende Mehrheit der Menschen einfach eine Partei ankreuzt. Sich nicht mal die (im Vergleich zur direkten Demokratie verdammt geringe) Mühe macht, zu sich zu informieren, wofür die Kandidat:inn:en stehen. Denn selbst innerhalb der Parteien gibt es zum Teil große (Meinungs-)Unterschiede – und durch Kumulieren kann jeder seine Schwerpunkte setzen.

Natürlich gibt es viele Gründe, warum man das (jetzt gerade) nicht machen will + kann: Keine Zeit, zu komplex, bringt ja eh nix, … – alles klar. Aber dann ist es VIEL zu früh, um über mehr Demokratisierung zu reden. Und dann triumphieren, die (aus Gründen) die gegen mehr Demokratie und Beteiligung sind. Wollen wir das?

490 Menschen kandiddieren in Darmstadt zur Kommunalwahl am 14.3.2021 – auf erstaunlichen 13 Listen. Das ist toll! (Darum!) Hier gibt es erste Anhaltspunkt zu den Kandidat:inn:en: Alle zugelassenen Wahlvorschläge für die Kommunalwahl in Darmstadt.

Wirklich keine Zeit? Na gut, dann 1 Vorschlag: Mach wenigstens bei einer Person jenseits deiner favorisierten Liste ein Kreuz – das erfordert keine riesige Recherche. Mach mindestens ein (symbolisches) Kreuz (von 71) anderswo, um zu zeigen, dass du diese Möglichkeit begrüßt und unterstützt. Daran wird keine Niederlage oder kein Sieg hängen, keine Koalition scheitern oder zustande kommen (und wenn es viele machen, gleicht es sich vermutlich sogar wieder aus) – aber du gehörst dann zu denen, die nicht pauschal eine Partei wählen und damit diese (vorsichtig) erweiterte Form der Mitbestimmung unterstützen.

Nur sone Idee. Hab ich übrigens so gemacht. Obwohl ich selbst für eine Wählervereinigung kandidiere – sie hat nicht 100% meiner Stimmen erhalten.

Ausprobieren? Geht hier im interaktiven Stimmzettel der Stadt Darmstadt.

Der interaktive Probestimmzettel ist mit dem Original-Stimmzettel identisch. Er bietet die Möglichkeit, sich bereits jetzt mit den Wahlvorschlägen sowie den Bewerberinnen und Bewerbern vertraut zu machen und die Stimmabgabe zu üben. Die Auswirkungen der Stimmabgabe sind im blauen Feld oberhalb der Parteilisten sofort erkennbar und es ist ersichtlich, ob es sich um eine gültige oder ungültige Stimmabgabe handelt. Bitte beachten Sie, dass Sie zur Nutzung des Probestimmzettels einen modernen Browser benötigen. Der Internet-Explorer unterstützt diese Anwendung nicht.