1. Akt: Einführung & Vorspiel
Für alle werten LeserInnen, die außerhalb der Bundesligastadt Darmstadt zu Hause sind: Der „Datterich“ ist eine Darmstädter Lokalposse von Ernst Elias Niebergall aus dem Jahr 1841 in südhessischer Mundart. Die Posse ist bis heute ein bedeutender Teil der Darmstädter Identität.
Das Stück ist die Geschichte des „genialen Schnorrers“ Datterich, eines entlassenen, versoffenen Finanzbeamten. Der „Datterich“ ist charakterisiert als der „typische“ Darmstädter: Vorlaut, schlitzohrig, immer auf seinen Vorteil bedacht. Ein Kernsatz:
„Bezahle, wenn mer Geld hat, des is kah Kunst, aber bezahle, wenn mer kahns hat, des is e Kunst….“
(Quelle: Wikipedia)
Für alle werten LeserInnen, die wenig über die Stadtgrenzen Darmstadts hinausschauen / hinausdenken: Mathias Oliver Christian Döpfner (* 15. Januar 1963 in Bonn) ist als Vorstandsvorsitzender des deutschen Medienunternehmens Axel Springer SE der Herausgeber einer Publikation, die seit einigen Jahren ständig und ausdauernd gegen „die Griechen“ hetzt, weil die Oberschicht des Landes genau das getan hat, was der Datterich zu seinem Lebensmotto erhoben hat: Geld auszugeben, dass sie nicht haben. Die „BILD“ genannte Publikation verfälscht zu diesem Zweck gern auch Tatsachen und verdreht Fakten und torpediert mit dem Aufbau und der Pflege von Vorurteilen die Völkerverständigung (hier: ein furchtbares Beispiel, wie sich die Bild-Hetze im Alltag n Deutschland auswirkt). Herr Döpfner verdient u.a. mit dieser Hetze jedes Jahr einige Millionen Euro.
Damit wären die Hauptpersonen des Dramas vorgestellt. Nun müssen sie noch zusammen kommen. Und das ging so:
In Darmstadt findet dieses Jahr anlässlich des
a) 200. Geburtstages von Ernst Elias Niebergall (1815–1843),
b) des 100-jährigen Jubiläums der Erst-Aufführung des »Datterich« am Darmstädter Hoftheater und
c) des 90-jährigen Bestehens der Hessischen Spielgemeinschaft
(eine fast heilige Dreifaltigkeit) das Datterich Festival 2015 statt. Im Rahmen dieses Festivals gibt es viele Aufführungen des Datterich-Stückes. Eine davon war eine Promi-Aufführung, für die diverse B-Prominenz (darunter auch der angebliche „Wirtschaftsexperte“ Bert Rürup – als überzeugter Volkswirt muss ich das leider so sagen) eingeladen wurde. Auch der oben genannte Mathias Döpfner sagte zu – und wurde in der Folge besonders für die Werbung genutzt.
2. Akt Aufführung und Höhepunkt
Am 10. Juni 2015 kam die Promi-Inszenierung im Darmstädter Staatstheater zur Aufführung.
Was keiner Vorhersehen konnte: Mitten im Stück kam es zu einer Intervention aus dem Zuschauerraum. Mitglieder des Darmstädter Theaterprojekts “Schulden. Eine Befreiung” unterbrachen die Aufführung in weiße, altgriechisch anmutende Gewänder gekleidet mit einer eigenen Inszenierung, die sich (überraschend!) vor allem gegen die Doppelmoral (s.o.) des Springer-Chef Döpfner richtete.
Aus dem (teilweise auch prominenten) Publikum gibt es dafür (einzelne) Buh-Rufe, bevor der Protest dann von breitschultrigen Männern in Anzügen (Bodygards?) aus dem Raum gedrängt wird.
Danach geht das Schaupiel weiter. Mathias Döpfner kann alle seine Verse als Freund „Bennelbächer“ des Datterich zu Ende sprechen.
3. Akt: Das Nachspiel
Dem Laufe des klassischen Dramas folgend kann die Geschichte damit noch nicht zu Ende sein.
Die Presse berichtete:
Darmstädter Echo: Demonstration stört Datterich-Aufführung in Darmstadt
Dramstädter Tagblatt: Promi-Datterich mit Störfaktor
Meedia: Anti-Bild-Protestler stört die “Datterich”-Promi Aufführung mit Döpfner und Markwort
Über die Qualität der Aufführung berichten die Darmstädter Zeitungen übrigens gar nicht – vermutlich froh, dass si einen Anlass haben Thema umgehen zu können.
Diverse Social Media Kanäle verbreiteten die Nachricht über die Stadt und das Netz, bis sie zu Jörg Heléne gelangte. Jörg Heléne ist ein Darmstädter Blogger, der sich in seinem Blog „Darmstadt“ (https://darmundestat.wordpress.com/ ) vorwiegend (aber nicht nur) mit historischen Themen beschäftigt. Ich habe Jörg vermutlich nie persönlich getroffen. Aber ich schätze sein Blog und lese seine Artikel gern.
Jörg (für den hoffentlich OK ist, dass ich ihn jetzt einfach mal duze) jedenfalls griff das Thema in seinem Blog auf, indem er nach Details fragte und die Protestierenden kritisierte (eigentlich zunächst nicht einmal, dass sie überhaupt protestierten, sondern mehr, dass sie ihre Botschaft schlecht verpackt hätten).
Was mich dazu inspirierte, mich an der sich in den Kommentaren entstehenden Diskussion zu beteiligen. Nichts tiefschürfendes, was hier unbedingt wiederholt werden müßte, nur eine kleiner, zivilisierter Austausch von unterschiedlichen Meinungen. Zumindest bis Jörg schwere Waffen auffuhr:
Leider hat er bisher nicht verraten, welchen Text von Tucholsky er im Kopf hat. Tucholskys Gesamtwerk umfasst immerhin 10 (unterhaltsame und sehr empfehlenswerte!) Bände.
Aber es hat mich dazu inspiriert, zu überlegen, was mein großes Vorbild denn zu diesem Event und zu Herrn Döpfner zu sagen gehabt hätte. Zwei Texte sind mir in den Sinn gekommen, die ich aktuell und passend genug finde, um den Anlass zu nutzen, sie mit euch zu teilen.
Zum einen natürlich der Klassiker “Preußische Presse” (hier ein Auszug)
Kurt Tucholsky
Niemand hat eine so große Fresse
wie die preußische Presse.[…]
Deutschland! hast du eine Lammsgeduld!
Läßt dir heute nach diesem allen
Frechheit von Metzgergesellen gefallen?
Lern ihre eiserne Energie!
Die vergessen nie.
Die setzen ihren verdammten Willen
durch – im lauten und im stillen
Kampf, und sie denken nur an sich.
Deutschland! wach auf und besinne dich!Nur einen Feind hast du deines Geschlechts!
Der Feind steht rechts!
Sehr passend erscheint mir auch sein genial ironischer Text „Der Presseball“ – da sehe ich die Eitelkeiten der Promis im Darmstädter Staatstheater lebhaft vor mir.
Doch wer Tucholsky wirklich kennt, wird nicht überrascht sein, dass er sich wenig zur Verteidigung solcher Oberschicht-Possen eignet – weder in seiner Eigenschaft als herausragender Theater-Kritiker, noch als jemand, der lange gegen den die Propaganda des „Stürmer“ und anderer nationalistischer Publikationen gekämpft (und schlussendlich verloren) hat.
Also Tucholsky zur Verteidigung des Bild-Herausgebers heranzuziehen, geht meiner Ansicht nach hinten los. Aber dieser Tucholsky ist ja auch noch nicht wirklich ein Klassiker.
Was also würde ein echter Klassiker dazu sagen? Nehmen wir Georg Büchner, ein anderer Dramatiker und Darmstädter Lokalheld, der inzwischen auch mit der hessischen CDU kompatibel ist. Zum Promi-Aufführung würde er vielleicht sagen:
“Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen.”
Der Karren wäre in diesem Fall das Steuergeld-finanzierte Staatstheater. Und zu den Protesten / der Kritik daran? Vielleicht dieses:
“Ein einziger Aufwiegler taugt manchmal mehr als alle Abwiegler zusammen.”
Mehr: Aufrührerische Büchner-Zitate
Was der Datterich zu dem ganzem Theater sagen würde, mag ich nicht zu behaupten. Ich bin dafür (noch) zu wenig mit der Stoff vertraut. Ich habe aber so meine Vermutung, in welche Richtung das gehen würde.
Update, 17.6.2015: Jörg Helene „Was Niebergall sonst noch so geschrieben hat…“!
Siehe auch:
Wie der Hass entsteht… dank Springer
ein furchtbares Beispiel, wie sich die Bild-Hetze im Alltag n Deutschland auswirkt
Kritik an der Kritik an der Ideologie vom totalen Buchmarkt
Schlafende Kulturhauptstadt Darmstadt
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