Am 20.2.2014 war Mathias Wagner, Bildungssprecher und Fraktionsvorsitzender der Grünen im hessischen Landtag in Darmstadt. Eingeladen hatte der AK Bildung der Darmstädter Grünen.

Mathias Wagner bei den Grünen DarmstadtDie erste Erkenntnis meines Besuches dort: Die Darmstädter Grünen sind keine Partei der SchülerInnen und Jugendlichen mehr. Erstes Indiz: Es waren weder “normale” SchülerInnen anwesend, noch VertreterInnen des Stadtschülerrates und auch nicht der Grünen Jugend. Es war nicht klar, ob dieses gar nicht eingeladen / angesprochen wurden, oder bevorzugt hatten, der Veranstaltung fernzubleiben.

Eine noch größere Distanz zeigte sich, als Daniela Wagner in ihrem Grußwort betonte, dass die CDU-Grüne-Landesregierung in der Bildungspolitik die Interessen der Eltern und LehrerInnen berücksichtigen wolle. Mein Rückfrage, warum sie nicht auch die Interessen der SchülerInnen berücksichtigen wolle, verstand sie gar nicht, sondern entgegnete ehrlich verwundert: “Aber wir machen das doch für die SchülerInnen.”

Verständlich, warum ich das absolut unmöglich finde?

Nein? Dann stellt euch mal vor, ein Mann würde sagen: “Frauen müssen in der Politik nicht mitreden, weil die Männer machen doch die Politik für die Frauen.”

Durch solche Aussagen werden SchülerInnen werden zu Objekten der Bildungspolitik degradiert, statt als eigene Interessensgruppe anerkannt und beteiligt zu werden. Für eine Regeirungspartei ist das natürlich praktisch, weil SchülerInnen als direkt und unmittelbar Betroffene der Bildungspoltik in der Regel radikalere Forderungen haben und auch ungeduldiger sind bei der Umsetzung von Verbesserungen. Aber solche Aussagen zeugen darüber hinaus von einer “von oben herab”-Haltung, die Jugendliche weiter von der Politik (und den Grünen!) entfremdet. Das allgemeine Unverständnis, mit dem das Podium wie auch das Publikum auf meinen Einwurf reagierten, zeigt, wie nötig ein kompletter Generationswechsel bei den Grünen wäre.

Das Publikum: Geschätzt 80% des Publikums waren Lehrkräfte. Ihre Wortmeldungen zufolge fast ausschließlich solche, die an den Schulen noch etwas (für die aktuellen und zukünftigen SchülerInnen) bewegen wollen. Und durchaus eine kritische Distanz zu den Grünen (bzw. ihrer Koaltion zur CDU)  haben. Wobei der Altersdurchschnitt eher um die 50 lag. Haben die jungen LehrerInnen die Hoffnung in die Politik verloren?

Die wichtigste gute Botschaft von Mathias Wagner: Das Land Hessen wird an den Grundschulen eine flächendeckende Ganztagsversorgung von 7:30 bis 17 Uhr als Angebot einführen. Dabei wird das Land die Kosten der Betreuung bis 14:30 übernehmen – die somit für Eltern und Schüler auch kostenfrei sein wird. Für die Betreuung von 14:30 bis 17 Uhr werden die Kommunen zuständig sein – und könnten dafür auch Gebühren verlangen. Dabei soll – auch in der Zeit bis 14:30 Uhr – wo vorhanden – auf bereits erfolgreich arbeitende Angebote (Vereine, Initiativen) zurückgegriffen werden.

Daran gab es aus dem Publikum durchaus Kritik:

  • Zum Einen wurde kritisiert, dass ein echter Schritt in Richtung Chancengleichheit nur dann getan sei, wenn zumindest das Angebot bis 14:30 Uhr verpflichtend wäre.
  • Zum Anderen gab es Kritik daran, dass die bestehenden Strukturen belassen werden sollten, da diese – Stichworte: Qualität, präkäre Arbeitsverhältnisse – oft hinter die Ansprüche schulischer Angebote zurück fallen würden

Ich halte den Ansatz jedoch unter den gegebenen Rahmenbedingungen für einen guten Schritt in Richtung mehr Chancengleichheit. Was jedoch nicht sein darf: Das wie im derzeitigen CDU-FDP “Ganztagsschulprogramm” eine solche Betreuung nur an einem einzigen Tag pro Woche angeboten bekommen (wie ein Schulleiter auf der Versammlung aus der derzeitigen Praxis berichtete – und damit Mathias Wagner offensichtlich überraschte).

Eine weitere gute Botschaft: Die neue hessische Landesregierung will die Lehrerzuweisung nach dem Sozialindex verdoppeln. Natürlich ist das noch zu wenig. Aber auch hier ein richtiger Schritt.

Bei der Inklusion müssen sich die Betroffenen jedoch (sofern sie können) gedulden: Erst bis Ende der Legislaturperiode wollen CDU und Grüne gewährleisten, das jedes Kind, dessen Eltern das wollen, einen Platz in einer Regelschule bekommt. Jedoch wird zumindest auch aus den Erfahrungen aus der Vergangenheit gelernt: Die zusätzlichen Kräfte sollen zukünftig wieder in das Kollegium eingebunden werden, statt als externe “Springer” nur stundenweise an der Schule tätig zu sein.

Einen Eiertanz vollführte Mathias Wagner in Sachen 105%ige Lehrerversorgung. Was er in Oppositionszeiten noch als unzureichend bezeichnet hatte, versuchte er hier als gut und ausreichend zu verkaufen. Geglaubt hat ihm das im Publikum wohl kaum jemand – am wenigsten die LehererInnen. Zu seiner Ehrenrettung sei berichtet: Er selbst wies auf diesen Widerspruch hin. Ohne ihn aufzulösen.

Eine klare Absage gab es an die Maßnahme, die am stärksten zugunsten von Chancengleichheit gewirkt hätte: Eine Verringerung der Klassenstärke.

Mal zum Vergleich: In der Erwachsenenbildung gelten Gruppen von 16 TeilnehmerInnen als das absolute Maximum, mit dem effektives Lernen möglich ist.  Und da sitzen freiwillig teilnehmende, überwiegend vernünftige Erwachsene, nicht pubertierende Jugendliche. An unseren Schulen dagegen haben wir mindestens die doppelte Gruppengröße – durchgehend Klassen von 32-35 SchülerInnen – da können in 45 Minuten gar nicht alle erreicht und schon gar nicht individuell gefördert werden. Was das Problem zu den Eltern verlagert – jedenfalls da wo sie es leisten können.

Natürlich kann man das nicht den Grünen vorwerfen. Auch schon eine kleine Reduzierung der Klassengröße würde soviel Geld kosten, dass entsprechende Einsparungen in anderen Haushaltsposten schmerzhaft wären – und mit den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen nicht zu erreichen sind. Da müssen schon sehr viele Menschen nicht mehr CDU, SPD und FDP wählen, für eine solche wichtige Investition in die Zukunft unserer Kinder auch Mehrheiten gibt. Eine Bereitschaft für einen solchen Schritt sehe ich zur Zeit nur bei den Grünen, der Linken, den Piraten und den freien Wählern. Also junge / zukünftige Eltern: Überlegt euch gut, wem ihr das nächste Mal eure Stimme gebt. Und geht zur Wahl, anstatt Zuhause zu bleiben. Eure Kinder könnten (noch) davon profitieren.

Erfreulich finde ich dagegen, dass den Schulen weiterhin eine Rückkehr zu G8 in der eigenen Entscheidungshoheit (Schulkonferenz) belassen wird. Der überwältigende Zuspruch bestätigt die G8-Kritiker: Über 80% der weiterführenden Schulen in Hessen bieten ab nächstem Schuljahr wieder (wahlweise oder komplett) G9 an. In Darmstadt bleibt das jedoch leider auch weiterhin auf die Gesamtschulen beschränkt, auch wenn es inzwischen Prüf-Beschlüssen an anderen Schulen gibt.

Trotz der Freude darüber sollte nicht vergessen werden, wem Hessen dieses komplett fehlgeschlagene Experiment (und seine inkompetente Durchführung) verdankt: Der CDU und vor allem der FDP.

Richtig peinlich war, dass einer der grünen Podiumsmitglieder versuchte, den Eindruck zu erwecken, die Darmstädter Eltern seien mehrheitlich für G8. Nicht nur, das er damit voll auf die Propaganda einer kleine Clique von Schulleitern und konservativen Elternvertretern herein fällt – es offenbart auch völlig Unkenntnis der aktuellen Stimmung unter Eltern und SchülerInnen (siehe auch den am gleichen Tag erschienenen SZ-Artikel: “Schüler im achtjährigen Gymnasium: Durchkommen, irgendwie”). Zum Glück erntete er dafür auch reichlich Unmut und Widerspruch aus dem Publikum.

Auch Mathias Wagner schien da, wo es um die konkrete Umsetzung der Politik an den Schulen geht, nicht ganz sattelfest zu sein. Mir haben einige seiner Äußerungen ein Bild gezeichnet, das zeigt, dass die Realität an den Schulen in Hessen bei ihm nicht vollständig angekommen zu sein scheint. So habe ich auch die Reaktionen des Publikums auf einige seiner Äußerungen verstanden. Vielleicht sollte er da öfter zuhören, statt denen, die aus der Praxis kommen, zu erklären, was ausreichend und gut ist.

Fazit: Natürlich ist es nach 33 Tagen Regierungsarbeit zu früh, schon zur Bewertungen der Regierungsarbeit zu kommen. Aber zumindest an den Absichten der Schwarz-Grünen Koalition gemessen kann man sagen: Es hätte schlimmer kommen können für die Bildungspolitik in Hessen. Eine Wiederauflage von Schwarz-Gelb zum Beispiel – der wir ja nur knapp entgangen sind – wäre ein Katastrophe gewesen. Aber auch eine CDU-SPD-Koalition hätte ich gefürchtet – ich traue der SPD nicht zu, mehr heraus zu handeln, als es den Grünen gelungen ist. Und ich finde, die Aufstellung der SPD im Bund und in den Bundesländern, in denen sie an der Regierung ist, bestätigt das eindrucksvoll. So kommt zumindest ein wenig Bewegung in die festgefahrene Bildungspolitik.

Natürlich hätte es auch besser kommen können. Rot-Grün-Rot zum Bleistift hätte eine ganze Menge mehr bewegen können. Das es nicht dazu gekommen ist, ist aber am allerwenigsten den Grünen anzulasten, sondern vor allem der SPD und sicherlich auch ein wenig der Linken.

Ein Wunsch von Mathias Wagner jedoch wird sich sicher nicht erfüllen. Sein Ziel, die Schulpolitik zu befrieden wird diese Koalition mit den vorgestellten Maßnahmen sicher nicht erreichen. Ich erlebe die Missstände im Bildungssystem in der Realität und die vorsichtigen Maßnahmen kratzen bisher nicht einmal an den Ursachen. Die hessische Schulen ist bis auf weiteres nicht Zukunfts-fähig, die Missstände  werden von Schwarz-Grün nur gemildert, nicht behoben.

Angesichts der struktur-konservativen Hessen sind aber die Parteien vielleicht der falsche Weg, daran etwas zu ändern.

 

Siehe auch:

 Meine bildungspolitischen Wahlprüfsteine

Schülerforderungen an Landtags-Wahlprogrammen gespiegelt

Marburger Bildungsaufruf: Demokratisierung statt Ökonomisierung!

Soziale Herkunft entscheidet über Chancen

Wieviel müssen Eltern leisten – wann versagt Schule?

Sitzenbleiben

Halten Sie eine Leistungsselektion nach der vierten Klasse für richtig?

 

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