Kopfloser by Carsten Buchholz

In der öffentlichen Diskussion um die Bewertung des Urlaubes von Anne Spiegel habe ich mich bisher nicht geäußert. Zu wenig geeignet für einfaches Urteil schien mir der Fall – und ich hatte nicht alle Infos, um es beurteilen zu könnnen.

Nun ist Anne Spiegel zurückgetreten. Und es gibt Quellen, die mir erlauben, die Thematik zu bewerten. Und ich möchte das tun, weil es daraus – über den konkreten Fall hinaus – einiges zu Lernen gibt. Für moderne Politiker:innen. Aber auch für die öffentlichen Diskussion. Und persönlich.

Vorab meine Bewertung der Ereignisse (wissend, dass ich hier ein paar Leser:innen verlieren werde), die ich im folgenden dann begründen möchte:

  • Es mußten in Deutschland (auch in jüngster Zeit) Politiker:innnen anderer Parteien trotz viel schlimmerer Handlungen und Aussagen nicht zurücktreten.
  • Der Rücktritt der grünen Politikerin Anne Spiegel war dennoch der richtige Schritt.

Zu diesem Ergebnis komme ich, obwohl ich nicht einmal finde, dass der Urlaub von Anne Spiegel selbst ein Fehler oder ausreichender Grund für den Rücktritt der Politikerin ist. Für mich hat sie drei andere, entscheidende Fehler gemacht, die einen Rücktritt unvermeidlich machten:

  • Sie hat den Grund für den Urlaub in einer Krisensituation nicht von Anfang an offen kommuniziert, sondern erst, als sie meinte, ihn als Entlastungs-Argument einsetzen zu können
  • Sie hielt es für richtig oder notwendig, trotz Urlaub arbeiten zu müssen
  • Sie hat gelogen, um sich einen Vorteil zu verschaffen

Manche werden diese Einschätzung als Urteil eines alten, weißen Mannes (der ich bin) abtun und die folgenden Ausführungen wohlmöglich als Mansplaining. Deshalb: Niemand muss hier weiterlesen, der kein Interesse an meiner Meinung hat. Vielleicht bin ich dessen schuldig – laßt es mich in den Kommentaren wissen, wenn ihr zuende gelesen habt. Ich schreibe hier meine Überlegungen auf, damit wir alle etwas daraus lernen können. Und sei es das Gegenteil meiner derzeitigen Meinung.

Hier also ausgeführt, warum ich zu der Einschätzung komme:

Surprise by Carsten Buchholz

1. Falsche Kommunikation

Grundsätzlich kann man von Politiker:inne:n meiner Meinung nach erwarten, dass sie in einer Kisensitation, die Menschen ihres (Bundes-)Landes existenziell betrifft, private Plänen und Vergnügen hinten an stellen. Insbesondere, weil viele andere Menschen das Gleiche taten und tun sollen, um den Betroffenen der Flutkatastrophe zu helfen. Anders ist das jedoch, wenn ein:e Politiker:in zur gleichen Zeit in einer familiären Krise steckt (insbesondere, wenn Kinder betroffen sind). Insofern war die Entscheidung von Frau Spiegel, hier das Wohl ihrer Familien vor das die Erwartung des Amtes zu stellen, die richtige Entscheidung und ist erst einmal kein Grund für Kritik. Im Gegenteil: Ich würde niemanden wählen, der sich anders entscheidet.

Angesichts der Erwartungen der ihr anvertrauten Bürger:innen wäre es meiner Meinung nach jedoch notwendig gewesen, damals die entsprechende Transparenz herzustellen. Nicht notwendig in dem Detailgrad, den sie nun zu ihrer Endschuldigung auf einer Pressekonferenz gewählt hat, aber zumindest damals schon von einer Familienkrise zu sprechen wäre ein richtiges und im nachhinein notwendiges Maß an öffentlicher Transparenz gewesen.

Natürlich verstehe ich, dass es schwer fällt, mit solchen Dinge an die Öffentlichkeit zu gehen (und dass es gerade einer Frau von grundsätzlich feindlich gesinnten Menschen sofort als Schwäche ausgelegt worden wäre). Aber wenn man es für einen richtigen und wichtigen Schritt hält (was Frau Spiegel ja offensichtlich tat), dann sollte man auch dazu stehen – und nicht vor der (vermeintlichen) öffentlichen Meinung einknicken (und hoffen, dass es keinem auffällt).

Vielleicht wäre es sogar klüger gewesen, damals zu kommunizieren, dass Frau Spiegel “ihr Amt für 4 Wochen ruhen läßt”. Statt von “Urlaub” zu reden, dem immer etwas der Beigeschmack von “Vergnügen” anhängt, obwohl er ja nicht nur der Erhohung (und damit besseren Leistungsfähigkeit) dient, sondern für viele auch gar kein Vergnügen ist.

Das Frau Spiegel das nicht getan hat, ist menschlich. Aber falsch.

Fazit 1: Gerade wer wirklich eine andere politische Kultur will, muss dann auch zu dem stehen, was er/sie für notwendig hält. Soviel Tranzparenz verdienen wir Wähler:innen.

2. Falsche Arbeits-Ethik

Arbeits-Architektur by Carsten Buchholz

Schon viele einfache Mitarbeiter von Unternehmen und Behörden halten sich für unersetzlich (oder schlimmer: sind es). Noch schlimmer ist es bei Führungskräften bis in Top-Positionen. Das führt sehr oft dazu, dass notwendige Erholungszeiten nicht eingehalten werden und die entsprechende Personen sich ständig erreichbar machen und auch während des Urlaubs arbeiten. Viele davon glauben, das sei richtig, weil sie ja “belastbar” seien (müßten). Wie problematisch das sowohl für die Betroffenen als auch für die Menschen um sie herum ist, ist umfangreich psychologisch und medizinisch untersucht.

Folgen: Stress, authoritäre Kommunikation, authoritärer Führungsstil, Beratungs-Resistenz, Verlust guter Teammitglieder, Fehlentscheidungen, Krankheit, Burn-out, früher Tod ( z.B. durch Herzinfarkt). Das gilt nicht nur für die Personen, die so denken/arbeiten – sondern diese Folgen treten auch bei Menschen im beruflichen wie familiären Umfeld auf.

Modernen Führungskräften (zu denen auch Ministerinnen gehören sollten) sollte diese Zusammenhänge bekannt sein. Immerhin sind viele Bestimmungen aus dem gesetzlichen Arbeitsschutz genau deswegen beschlossen worden. Keine Rocket-Science. Daher ist von Führungskräften insbesondere zu erwarten, dass sie um sich herum ein Team (und Vertretungsregelungen) aufbauen, dass sie auch in Ausfallzeiten (und sei es durch Krankheit) kompetent und auch inhaltlich/politisch vertreten können und dem die Amtsgeschäfte auch mal für einen Zeitraum von 4 Wochen anvertraut werden können. Wenn dass jedoch nicht gegeben ist und die Führungskraft immer als Feuerwehr verfügbar sein muss, drohen im Stress Fehler und Fehlentscheidungen, deren Auswirkungen (besonders in der Politik) drastisch sein können.

Frau Spiegel hielt sich entweder für unentbehrlich (hat also kein entsprechendes Team für die Vertretung aufgebaut) oder sie hat sich den (vermeintlichen?) Vorstellungen Anderer hinsichtlich Unentbehrlichkeit und Verfügbarkeit unterworfen und meinte deshalb, trotz Urlaub und familiärer Krise zur Verfügung stehen zu müssen. Welches von beidem kann nur sie beurteilen.

Das Frau Spiegel so gehandelt hat, ist menschlich. Aber falsch. Und hat dann den nächsten Fehler verursacht.

Fazit 2: Eine Arbeits-Ethik, die auf Unentbehrlichkeit und ständiger Verfügbarkeit beruht, schadet nicht nur denen, die sie leben. sondern auch den Menschen um sie herum. Sie führt auch zu Fehlentscheidungen und erzeugt eine schädliche Vorbildfunktion.

3. Unehrlichkeit

Im öffentlichen Interesse - by Carsten Buchholz

Die oben beschriebene Arbeitsethik führte dazu, dass Frau Spiegel – nachdem sie unter Druck kam – behauptete, auch an Meetings (Kabinettssitzungen) teilgenommen zu haben, obwohl das nicht zutraf. Wenn die Gründe für ihre Abwesenheit zutreffend waren – und sie innerlich davon überzeugt war – dann hätte sie auch dazu stehen sollen / müssen, statt zu versuchen, sich mit einer Lüge hinauszuwinden.

Das Problem mit Lügen ist, dass sie (sofern sie nicht anderen Motiven dienen, als dem eigenen Vorteil) die eigene Glaubwürdigkeit nachhaltig beschädigen. Und in diesem Fall ging es Frau Spiegel ganz offensichtlich nur um den eigene Vorteil / das eigene Ansehen. “Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht” – so heißt das sehr alte Sprichwort. Allein die Lüge war m. M. ausreichender Grund für einen Rücktritt.

Das Frau Spiegel unter hohem Druck gelogen hat, ist menschlich. Aber falsch.

Fazit 3: Wenn ich eine andere politische Kultur will oder gute persönliche Gründe für mein Handeln habe, dann sollte ich dazu stehen. Oder wenigstens über die Tatsachen, die daraus resultieren, nicht lügen. Lüge darf in der Politik kein akzeptabeles Mittel sein.

Brauchen wir eine andere politische Kultur?

Viele Menschen, die für sich in der öffentlichen Diskussion für Frau Spiegel ausgesprochen haben, haben eine andere politische Kultur gefordert, in der es möglich ist, zugunsten der Familie eine Auszeit zu nehmen. Dem stimme ich zu. Gundlage einer solchen Kultur müssen (aus dem obigen abgeleitet) jedoch mindestens diese drei Werte sein:

Gegenbewegung - by Carsten Buchholz
  • Transparenz
  • Gesunde Arbeits-Ethik
  • Ehrlichkeit

die auch von den Vertreter:inne:n dieser anderen politischen Kultur aktiv gelebt und kommuniziert werden müssen. Denn ohne diese Werte werden sie immer wieder in die Falle der Gestrigen laufen, die jede (vermeintliche) Schwäche ausnutzen. Und ich bin mir sehr sicher, dass Anne Spiegel heute noch Familienministerin wäre, wenn sie entsprechend gehandelt hätte.

Und ich bin froh, dass sie zurück getreten ist, weil die Grünen damit weiterhin den Anspruch aufrecht erhalten können, für eine andere politische Kultur zu stehen (auch wenn natürlich nicht jeder einzelne ihrer Amtsträger dazu gezwungen werden kann). Anne Spiegel hat mit ihrem Rücktritt dabei definitiv geholfen. Und ich wünsche ihr, dass sie daraus lernt und bald wieder für ein politisches Amt zur Verfügung steht.

Ein wenig What-aboutism(us)

Realer Schaden ist durch dass, was Anne Spiegel gesagt und getan hat, (soweit wir wissen) nicht entstanden. Es handelt sich (bis auf die Lüge, dass ist eine Charakter-Frage) also weitgehend um Symbolpolitik. Nicht, dass die nicht relevant wäre – sie (und die Diskussion darüber) prägt die politische Kultur eines Landes und hat eine Vorbildfunktion für junge Menschen (und die Älteren unter uns, die noch offen genug für sowas sind).

Völlig zurecht ist in der öffentlichen Diskussion wiederholt darauf hingewiesen worden, dass andere Politiker:innen wegen deutlich schwerwiegender Verfehlungen mit realen Auswirkungen auf die Menschen in diesem Land nicht zurückgetreten sind. Andreas Scheuer (CSU) wurde da zu Recht genannt, aber auch Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist trotz nachweislich verfassungswidriger Entscheidungen nicht nur im Amt geblieben, sondern konnte sogar noch Bundespräsident werden.

Und jetzt macht eine Frau Fehler in der Kommunikation und muss zurücktreten? Nein, fair und richtig ist das nicht.

Aber falsch dran ist nicht, dass Anne Spiegel zurückgetreten ist. Falsch daran ist vor allem, dass Andreas Scheuer und Frank-Walter Steinmeier NICHT zurückgetreten sind. Falsch ist, dass auf sie nicht noch viel größerer Druck ausgeübt worden ist, als auf Anne Spiegel.

Damit wird offensichtlich, dass Union und SPD eben weiterhin für eine veraltete, Macht-orientierte Politik stehen, in der Fehler in der Amtsführung zu keinen Konsequenzen führen (und von ihren Wähler:inne:n auch nicht bestraft werden). Das heißt aber nicht, dass das richtig ist oder dass wir uns an einem solchen Umgang mit politischer Macht und Verantwortung orientieren sollten. Im Gegenteil: Es ist nur möglich, das Fehlverhalten anderer glaubwürdig zu kritisieren, wenn selbst anders gehandelt wird.

Dagegen sind viele (potentielle) grüne Wähler:innen tatsächlich an einem Wandel der politischen Kultur interessiert. Das hat sich schon während der (nicht unbegründeten) Kampange gegen Annalena Baerbock im Wahlkampf der Bundestagswahl abgezeichnet, die den Grünen viele Stimmen gekostet hat. Der Rücktritt von Anne Spiegel sendet nun das Signal an diese Wähler:innen, dass die Bundes-Grünen zu diesem Wandel der Kultur stehen.

Insofern hat dieser Rücktritt seine guten Seiten.

Ob Anne Spiegel aus der ganzen Sache etwas gelernt hat, ist aus ihren Äußerungen nicht zu entnehmen. Aber falls das so ist, wäre ihr eine baldige Rückkehr auf verantwortungsvoller Position zu wünschen. Denn Lehrgeld ist immer bestens investiertes Kapital.

Was nicht im CDU Wahlprogramm steht