Julia Lehn als Julia in Anderwelt

Brilliant: Julia Lehn als Julia in Anderwelt

Game- und Casting- Shows jetzt auch im Theater? Muss das sein? Reicht es nicht, wenn der Schwachsinn die TV-Bildschirme verseucht? Müssen wir uns wirklich daran weiden, wie Menschen in  „Gewinner“ und „Verlierer“ eingeteilt werden?

Denn um nichts anderes geht es in diesen Veranstaltungen und sie dienen den glotzenden Zuschauern offensichtlich dazu, sich von der eigenen Rolle als Verlierer im Spiel des Lebens abzulenken. Denn echte Gewinner gehen  nicht in Game- oder Casting-Shows, wo sie nach Regeln der Regie vor einem Millionenpublikum vortanzen müssten. Echte Gewinner gehen raus und gestalten ihr Leben. Sie machen, was sie wollen. Sie kämpfen um das, was sie wollen und haben Spaß, wie sie es wollen.

Genau darum dreht sich das Stück „Anderwelt“, das am Freitag, 27.9.2013 vom Theater Lakritz im Mollerhaus uraufgeführt wurde. Was Julia Lehn und Andreas Konrad in “Anderwelt” unter der Regie Nicole und Marielle Amsbeck im Theater Moller Haus auf die Bühne bringen, regt dazu an, über TV-Shows, und über unsere Auffassung von Spielen neu nachzudenken. Auf sehr unkonventionelle Weise: Durch das gespielte Vorbild. Geht das? Nachdem ich das Stück gesehen habe, kann ich sagen: Ja.

Gleich zu Anfang fühlte ich mich an „Die Tribute von Panem“ erinnert. Es muss an den Eingangsstatements der Beiden gelegen haben – die zwar dem Zweck dienten, die Zuschauer auf die eigene Seite zu ziehen, aber noch wenig half, den Figuren Tiefe und Identifikationsfläche zu geben. Die Zuschauer auf ihre Seite ziehen, das ist es, worum es den beiden Figuren in der ersten Phase von „Anderwelt“ geht.

So müssen sich die Beiden  im Folgenden an sinnlosen und trotzdem amüsanten Aufgaben messen, sich auf die kühlen Anweisungen der gesichtslosen Moderation aus dem Off hin selbst erniedrigen, sich blamieren und: sich selbst bestrafen. Am Ende „darf“ das Publikum per Akklamation einen Sieger bestimmen. Ein SMS-Voting mit animiertem Multi-Media-Ergebnisbalken wäre hier noch besser gewesen. So bleibt die Illusion unangefochten, dass das Publikum bei Game- oder Casting- Shows tatsächlich einen Einfluss auf die Entscheidung hat.

Andreas Konrad als Andreas in Anderwelt

Startet verhalten, wird dann ganz stark: Andreas Konrad als Andreas in Anderwelt

„Julia“ kämpft um die Gunst des Publikums mit Humor, mit Groteske, mit fast verzweifelt wirkendem Engagement. „Andreas“ dagegen versucht es mit Coolness, mit zur Schau gestellter Abgeklärtheit und Überlegenheit. Etablierte Methoden im Casting-Business – überzeugend auf die Bühne gebracht.

Julia Lehn verkörpert ihre Julia in dieser ersten Runde mit großer Spielfreude und unglaublich starkem Ausdruck. Brillant, wie sie sich ins Spiel wirft, und dafür sorgt, das Schauspielerin und Charakter eins werden – nicht mehr zu unterscheiden sind. Der Charakter „Andreas“ bleibt für mich in dieser Runde jedoch erstaunlich blass – es wird mir nicht klar, was für ein Mensch hier um den Sieg kämpft. Dem Erfolg seiner Methode beim Moller-Publikum tut das keinen Abbruch: „Andreas“ geht (zumindest in dieser Aufführung) als klarer Sieger aus dem „Voting“ hervor.

Doch nach dem Spiel ist vor dem Spiel und so nimmt das Stück nach der scheinbaren Entscheidung eine überraschende Wendung, leitet einen zweiten Teil ein, ein anderes Spiel, ohne Regeln, ohne Regie, ohne Bewertung, ohne Sieger und Verlierer. Ein Spiel, dass offensichtlich mehr Spaß macht als die geplante und absehbare Show. Und während Julia Lehn hier ihrem tollen Spiel aus der ersten Halbzeit noch die Krone aufsetzt, beginnt auch Andreas Konrad zu blühen und der „Andreas“ bekommt jetzt echte Konturen und entwickelt sich nun zur zweiten Identifikationsfigur. Das macht riesigen Spaß.

Beim Spielen muss man schon mal die Luft anhalten.

Beim Spielen muss man schon mal die Luft anhalten.

Doch um so drängender wird – auch im Rückblick – die Frage: Warum würden so kreative, lebendige Menschen wie „Julia“ und „Andreas“ an einer so bescheuerten Sache wie einer Game-Show teilnehmen? Das bleibt unerklärt und lässt mich unzufrieden zurück. Dadurch wird eine medial konstruierte Illusion zur Normalität erklärt: Dass die Teilnahme an einer Game- oder Casting Show nicht profilierungssüchtigen, hirnlosen Vollpfosten vorbehalten ist, sondern jedem von uns „passieren“ kann. Was definitiv (noch) falsch ist.

Das Thema von „Anderwelt“ ist damit – auch wenn das Stück primär für jugendliche ZuschauerInnen konzipiert ist – durchaus brandaktuell und knüpft direkt an „Die Truman Show“ und „Die Tribute von Panem“ an und macht “Anderwelt” auch für uns Erwachsene eine anregende und sehr unterhaltsame Abendbeschäftigung – 1.000mal besser als – kontrolliert und manipuliert durch die TV Programmmanager – einen Abend vor der Glotze zu verbringen.

Mehr noch: Einer der Gründe, warum Theater in der Vergangenheit gegenüber dem Film viel Boden verloren hat, ist die oft mangelnde Abbildung der von uns real erlebten Realität. Anders als im Kino können Berge, Wälder und Städte im Theater nur unzureichend  simuliert werden. Wenn sich aber die (zunehmend im TV) erlebte Realität immer weiter in den Bereich der Kulisse verschiebt und die Darsteller zunehmend profilierungssüchtige Amateure werden, dann bekommt das Theater eine neue Chance. Theater Lakritz hat diese Chance genutzt: Julia Lehn und Andreas Konrad zu erleben, ist authentischer und realer als jede Casting- oder Game-Show.

Fazit: Absolut sehenswert.

Zwei (leise) operative Kritiken muss ich (bei aller Begeisterung) noch am Titel und der Stückbeschriebung des Theater Lakritz loswerden:

Warnung: Spielen kann tödlich enden.

Warnung: Spielen kann tödlich enden.

Erstens: Der Titel “Anderwelt” ist irreführend. Schließlich geht es im Stück nicht um eine andere Welt, sondern um unsere Welt. Es geht um Shows, es geht um Casting, es geht um Menschen.

Zweitens: Der Beschreibungstext des Stücks mag transportieren, wie sich die Figuren des Stücks fühlen. Aber er ist kaum geeignet, Zuschauer ins Theater zu locken. Er bietet mir keine Anknüpfungspunkte, er macht nicht neugierig, er erzeugt keine Spannung. Er deutet nicht einmal den zentralen Konflikt des Stücks an.

Beides wird leider dem Stück nicht gerecht. Fast wäre ich deshalb nicht hingegangen und das wäre sehr schade gewesen. Marketing muss nicht die Stärke von Theatergruppen sein (selbst beim Staatstheater beobachte ich das). Aber wenn ich schon so unglaublich viel hoch professionelle Arbeit in ein Stück stecke, dann sollte ich mir für die Werbung zumindest halb-professionelle Hilfe suchen. Dann wäre die Premiere vielleicht sogar ausverkauft gewesen.

 

„Anderwelt“ – Theater Lakritz von und mit:

Spiel: Julia Lehn | Andreas Konrad
Regie: Nicole Amsbeck | Marielle Amsbeck
Bühne: Nadja Klinge | Thomas Büttner
Licht, Ton, Apparatur: Nadja Klinge

 

Fotos: Theater Lakritz

 

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