Ein Gastbeitrag von Alex Soziol

Inhalt:
1 Die Utopie der Chancengleichheit
2 Soziale Selektivität im deutschen Schulsystem
3 Die Reproduktion sozialer Ungleichheit in der gesellschaftlichen Debatte
Literatur

 

1 Die Utopie der Chancengleichheit

Eines der schockierendsten Ergebnisse der PISA-Studie von 2000 war, dass in keinem anderen vergleichbaren Land der Schulerfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängt, wie in Deutschland (Gonschorek und Schneider 2007a: 50f.). Auf sehr deutliche Weise wurde damit klar, dass die Ideologie der Chancengleichheit in der Realität sehr weit von einer Verwirklichung entfernt ist. Chancengleichheit wäre nämlich erst dann gegeben, “wenn Unterschiede zwischen […] sozialen Gruppen sich nicht mehr in den Bildungs- und Berufschancen von Kindern auswirken würden” (Müller und Mayer 1976: 27). Das Versprechen, dass alle Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik alle gesellschaftlichen Positionen, auch die höchsten, erreichen können, wurde gebrochen.

Zahlreiche bildungspolitische Debatten und wissenschaftliche Publikationen zum “PISASchock” und speziell der hohen sozialen Selektivität des deutschen Bildungswesens waren die Folge. Vom Schulerfolg maßgeblich abhängig ist die weitere Karriere, der berufliche Lebensweg des Kindes (Müller und Pollak 2008: 311). Auch fast zehn Jahre nach der ersten PISA-Studie stellen sich also die Fragen, durch welche Effekte soziale Ungleichheit durch die Organisation Schule reproduziert wird und in wie fern dieser Reproduktion entgegen gewirkt werden könnte.

 

2 Soziale Selektivität im deutschen Schulsystem

In der Soziologie wird “soziale Ungleichheit” als Bezeichnung für ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, der Begünstigung und der Benachteiligung zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen verwendet (Eickelpasch 2008: 91). Die Ursachen und Prozesse der Reproduktion von sozialer Ungleichheit durch soziale Selektivität in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland sind vielfältig (Ditton 2008: 248). Soziale Selektivität bedeutet, dass nicht aufgrund von Schulerfolgen und Leistung, sondern aufgrund der sozialen Herkunft des Kindes selektiert wird (Lange 2005: 154).

Das in Deutschland bis heute vorherrschende dreigliedrige Schulsystem, mit seinen Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium, ist im Wesentlichen von ständischem Denken geprägt worden, welches aus dem Mittelalter stammt und konservative Bildungspolitik immer noch maßgeblich bestimmt (Gill 2005: 111). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Amerikaner die Abschaffung dieses vertikal gegliederten Systems nicht durchsetzen (Katzenbach und Schroeder 2007  – siehe auch 1).
Der Selektion der Kinder in die drei verschiedenen, weiterführenden Schulformen nach der Grundschule liegt die Auffassung zu Grunde, dass es “theoretische”, “praktische” und “theoretisch-praktische” Begabungen gäbe, und dass die unterschiedlich begabten Kinder in separaten Schulen bestmöglich gefördert werden könnten (Gill 2005: 111). Viele Lehrkräfte an deutschen Schulen teilen diese Auffassung, Lehrkräfte, die zudem im Regelfall aus den mittleren und oberen Schichten der Gesellschaft stammen (Rolff 1997: 135ff.) Weltweit betrachtet erfolgt die äußerst frühe Selektion nach nur vier Schuljahren nur in Deutschland, Österreich und einigen Kantonen der Schweiz (Gonschorek und Schneider 2007b:13), diese entfaltet eine in mehrfacher Weise sozial selektive und ungleichheitsverstärkende Wirkung (Müller und Pollak 2008: 311).

Je nach sozialer Herkunft werden Kinder “den jeweiligen schulischen Leistungsanforderungen unterschiedlich gut gerecht und sind unterschiedlich erfolgreich” – dies bezeichnete Boudon 1974 als primären Herkunftseffekt (Boudon 1974 zit.n. Müller und Pollak: 307). Ein sekundärer Effekt besteht nach Boudon darin, dass Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft selbst bei gleichen Leistungen sich darin unterscheiden, ob sie ihre Bildungsbiographie auf einer Bildungsstufe beenden oder auf einer anspruchsvolleren fortführen. Beide Effekte zusammen führen zu einer sozial zunehmend selektiveren Schülerpopulation von Bildungsstufe zu Bildungsstufe (Müller und Pollak: 307). Nach Rolf Becker sind “soziale Ungleichheiten von Bildungschancen ein unbeabsichtigtes Ergebnis des Zusammenwirkens primärer und sekundärer Herkunftseffekte” (Becker 2008: 171).

Dabei spielen auch Kosten-Nutzen-Entscheidungen der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern und der Lehrkräfte eine nicht unerhebliche Rolle. Zuletzt sind auch schichtspezifische Sozialisationsprozesse der Eltern und der Kinder maßgebend für die Entscheidung bestimmter Bildungslaufbahnen. “Bereits im zweiten oder dritten Schuljahr, teils sogar schon beim Schuleintritt” steht bei Eltern der Mittelschicht die Entscheidung über die zu wählende Schulform nach der Grundschule fest. Schulische Selektion setzt also bereits vor dem vierten Schuljahr ein, bedingt durch gewünschte Berufsziele und schulische Traditionen der jeweiligen Familien (Ditton 2008: 253).

 

3 Die Reproduktion sozialer Ungleichheit in der gesellschaftlichen Debatte

Die Faktoren, die zur Reproduktion von sozialer Ungleichheit führen, sind vielfältig und beeinflussen sich gegenseitig; sie sind auch außerhalb der Organisation Schule zu finden. Im Rahmen dieses Essays konnten nur einige Ursachen aufgezeigt werden. Staatlichen Bildungseinrichtungen können nicht unabhängig von der Gesellschaft gesehen werden, die durch Ungleichheit bestimmt ist, und in der diese Ungleichheit als Voraussetzung für den Konkurrenzkampf um gesellschaftliche Positionen fungiert. Das Thema “Bildungsgerechtigkeit” ,verstanden als Abbau von sozialer Selektivität, wird immer wieder von Politikern, Gewerkschaften, Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden auf die Tagesordnung gesetzt, zuletzt etwa bei den Bildungsstreik-Aktivitäten 2009. Auffällig hierbei ist, dass auch bei Landes-Wahlkämpfen die Ungerechtigkeit der Selektion nach sozialer Herkunft zumindest in den etablierten Medien keine bestimmende Rolle spielt, trotz der umfangreichen bildungspolitischen und wissenschaftlichen Debatte um die PISA-Ergebnisse. Von konservativer Seite ist die “intergenerationale Reproduktion sozialer Ungleichheit im Prinzip erwünscht” und wird durch entsprechende Bildungspolitik aufrecht erhalten (Gill 2005: 115). Wenn dieses alte und bestimmende Prinzip konservativer Bildungspolitik einmal aufgeweicht werden soll, wie z.B. aktuell von der schwarz-grünen Koalition in Hamburg2, geht das Wählerklientel aus den meist “bürgerlichen” Vierteln der Stadt auf die Straße und strengt Volksbegehren an. Jenseits der parlamentarischen Ebene können engagierte Lehrerinnen und Lehrer mit unterstützenden Kollegien gerade in der Grundschule dennoch viel gegen soziale Selektivität und falsche Schullaufbahn-Entscheidungen tun,  so lange der Wille dazu vorhanden ist.


 

1
Eine Begebenheit, die sich in der Nachkriegszeit in Hessen abgespielt hat, mag verdeutlichen, mit welcher Hartnäckigkeit dieses Modell gegen alle Anfechtungen verteidigt wurde:
Die amerikanische Besatzungsmacht sah nach dem Zweiten Weltkrieg das ständisch organisierte Schulsystem Deutschlands als einen der Verursachungsfaktoren für die Entstehung des deutschen Faschismus an. Insofern drängten die Amerikaner in ihren Besatzungszonen nachdrücklich auf die Abschaffung des vertikal gegliederten Schulsystems. Da sich die hessische Ministerialbürokratie diesen Anweisungen systematisch entzog, wies der Leier der Militärregierung in Hessen, Oberst Newmann, im August 1948 den damaligen hessischen Kultusminister Erwin Stein an, kein Kind mehr in ein vertikal gegliederte Schulform aufzunehmen bzw. zu übergeben. Erwin Stein wusste in dieser Notlage keine andere Lösung (wie er in seinen Memoiren nicht ohne Stolz bekannt), als kurzerhand den Einschulungstermin vom Sommer in das darauf folgende Frühjahr zu verlegen und auf das sich abzeichnende Ende des Besatzungsstatuts zu hoffen (zitiert nach: KATZENBACH, DIETER UND SCHROEDER, JOACHIM 2007, vgl. Friedeburg 1989, S. 306f.).

2
Vgl. Interview mit Ole von Beust in der Süddeutschen Zeitung vom 7.1.2010
http://www.sueddeutsche.de/politik/84/499362/text/ (11.1.2010)

 


 

Literatur

BECKER, ROLF: Soziale Ungleichheit von Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit. S. 161-190 in: Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach (Hg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, 3.Aufl., 2008.

BOUDON, RAYMOND: Education, Opportunity, and Social Inequality. Wiley: New York, 1974.

DITTON, HARTMUT: Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. S. 248-275 in: Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach (Hg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der
Bildungsungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, 3.Aufl., 2008.

EICKELPASCH, ROLF: Grundwissen Soziologie. Ausgangsfragen, Schlüsselthemen, Heraudforderungen. Stuttgart u.a.: Klett, 1999.

GILL, BERNHARD: Schule in der Wissensgesellschaft. Ein soziologisches Studienbuch für Lehrerinnen und Lehrer. Wiesbaden: VS Verlag, 2005.

GONSCHOREK, GERNOT UND SCHNEIDER, SUSANNE: Aufgaben und Funktionen von Schule. S. 40-68 in: Petersen, Jörg und Reinert, Gerd-Bodo (Hg.): Einführung in die Schulpädagogik und die Unterrichtsplanung. Donauwörth: Auer, 5. Aufl., 2007.

GONSCHOREK, GERNOT UND SCHNEIDER, SUSANNE: Der Aufbau des Schulsystems. S. 10-37 in: Petersen, Jörg und Reinert, Gerd-Bodo (Hg.): Einführung in die Schulpädagogik und die Unterrichtsplanung. Donauwörth: Auer, 5. Aufl., 2007.

KATZENBACH, DIETER UND SCHROEDER, JOACHIM: “Ohne Angst verschieden sein können” Über Inklusion und ihre Machbarkeit. In: Zeitschrift für Inklusion, Nr. 1 / 2007, 2007. http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/2/2 (11.1.2010)

LANGE, ELMAR: Soziologie des Erziehungswesens. Wiesbaden: VS Verlag, 2., überarb. Aufl., 2005.

MÜLLER, WALTER UND POLLAK, REINHARD: Weshalb gibt es so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands Universitäten? S. 307-346 in: Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach (Hg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag, 3.Aufl., 2008.

MÜLLER, WALTER, UND MAYER, KARL ULRICH: Chancengleichheit durch Bildung? Stuttgart: Klett, 1976.

ROLFF, HANS-GÜNTHER: Sozialisation und Auslese durch die Schule. Weinheim: Juventa Verlag, 1997.