Ein Gastbeitrag von Alex Soziol
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Selektion und Leistungsprinzip im deutschen Schulwesen
2.1 Funktionen des deutschen Schulwesens
2.2 Chancengleichheit, Leistungsprinzip und soziale Selektivität
3 Schichtspezifische und familiale Faktoren für Bildungsbiografien
3.1 Armut: Das Mehrdimensionale Problem
3.2 Kinderarmut in Deutschland
3.3 Gesundheitliche Folgen
3.4 Familiale Faktoren
4 Institutionelle Faktoren für Bildungsbiografien
4.1 Elementarbereich
4.2 Schule
5 Primäre und Sekundäre Herkunftseffekte nach Raymond Boudon
6 Fazit
Literaturverzeichnis

Reicher Mann und armer Mann
Standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.
(Bertolt Brecht)

1 Einleitung

Der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen wird zu Recht
als markante Schnittstelle in vielen Bildungsbiografien gesehen. Oft wird dieses
einschneidende Erlebnis als Beispiel für die hohe soziale Selektivität des
deutschen Schulwesens genannt. So schrieb die Tageszeitung über eine aktuelle
Studie zum Übergang von Grundschülern an weiterführende Schularten: „Das
Ende der Grundschulzeit markiert den Beginn der sozialen Auslese. Dies belegt
die erste bundesweit repräsentative Studie zum Übergang von Grundschülern an
weiterführende Schularten“ (Lehmann 2010: www). Hier wird fälschlicherweise
suggeriert, dass vor diesem „Beginn“ keine oder nur geringe soziale Auslese
stattfände. Dagegen bemerkt Hartmut Ditton die Vielfalt der Ursachen von
ungleichen Bildungschancen und ungleichem Bildungserfolg. Hier sei vor allem
„das Zusammenwirken von individuellen, familialen und schulischen Kontextbedingungen“
zu beachten (Ditton 2008: 248). Jenseits der institutionellen
Rahmenbedingungen sind also familiale und schichtspezifische Faktoren für den
Erfolg oder Misserfolg von Bildungsprozessen bedeutsam, die von Geburt an und
damit auch schon vor dem ersten Kontakt mit Bildungsinstitutionen zum Tragen
kommen.
In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, welche dieser Faktoren schon vor
dem Ende der Grundschulzeit, vor dem Ende der vierten Klasse, dazu beitragen,
dass im deutschen Bildungssystem nicht alleine aufgrund von Leistung, sondern
ebenfalls aufgrund von sozialer Herkunft selektiert wird; auch weil die
Schulleistungen der betroffenen Kinder unter den Wirkungen der sozialen
Benachteiligung, beziehungsweise der sozialen Ungleichheit, leiden.

2. Selektion und Leistungsprinzip im deutschen Schulwesen

2.1 Funktionen des deutschen Schulwesens

Die Schule in Deutschland ist, wie in allen entwickelten Industriestaaten, die
Größte der sozialen Institutionen. Allein durch die Ausmaße dieser Institution wird
die gesellschaftliche Bedeutung der Schule deutlich. Im Bezug zur Gesellschaft
hat das Schulsystem die übergeordnete Funktion, die sozialen Strukturen, sowie
die damit verbundenen ökonomischen, politischen und kulturellen Handlungssysteme
zu reproduzieren.
Nach Hans-Günter Rolff sind zudem folgende Funktionen des Schulwesens zu
unterscheiden: Qualifikation, Allokation und Selektion. Zentral für die Weiterentwicklung
der Gesellschaft ist die Qualifizierung, die Schulung der zukünftigen
Arbeitskräfte, unter anderem, um die Produktion effizienter zu gestalten und so
Wirtschaftswachstum herbeizuführen. Durch die Funktion der Allokation werden
den Heranwachsenden verschiedene gesellschaftliche Positionen, beziehungsweise
Statuslagen, zugeteilt. Dies ist notwendig, solange privilegierte Arbeits- und
Lebenslagen vorhanden sind, die von mehr Personen nachgefragt werden, als
entsprechende Berufe und Positionen existieren, die oft als angenehm, wichtig
oder gut bezahlt gelten (vgl. Rolff 1997: 9ff). Elmar Lange erklärt, dass das
Erziehungssystem so zur „Allokation von Personen auf Positionen
unterschiedlicher Höhe und Wertigkeit“ beiträgt und unterschiedliche
Lebenschancen indirekt verteilt (Lange 2005: 86).
Nur denjenigen mit den besten schulischen Leistungen sollen die Wege zu dem
höchst dotierten Arbeitsverhältnisse offen stehen. Folglich muss also selektiert
werden, die Schüler_innen mit schwächeren Leistungen sind von den Besten zu
trennen, damit sie später weniger “wichtige” und schlechter bezahlte Berufe
ausüben. Rolff bezeichnet die Funktionen Allokation und Selektion als zwei
zusammenhängende Subfunktionen, die der allgemeine Reproduktionsfunktion
der Schule untergeordnet sind (vgl. Rolff 1997: 9ff; vgl. Lange 2005: 85f).
2.2 Chancengleichheit, Leistungsprinzip und soziale Selektivität
Die soziale Ungleichheit, die die bundesdeutsche Gesellschaft kennzeichnet, wird
also reproduziert, die heranwachsenden Auszubildenden werden auf die

hierarchisch gestaffelten gesellschaftlichen Positionen und Berufe verteilt. Soziale
Ungleichheit meint ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, der Begünstigung
und der Benachteiligung zwischen verschiedene Gruppen von Menschen (vgl.
Eickelpasch 1999: 91).
Gemäß dem Grundgesetz, Artikel 3, sollen dennoch alle Kinder und
Heranwachsenden die gleichen Startchancen erhalten, die gleichen Chancen auf
die höchsten Positionen bekommen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung
2009: 11; vgl. Becker 2008: 161). Unabhängig von sozialer Schicht, Ethnie,
Konfession oder Geschlecht darf nur nach Leistung selektiert werden (Lange
2005: 85f). In dieser Art und Weise kann das Prinzip der Chancengleichheit
beschrieben werden, das die Voraussetzung für das Leistungsprinzip als
Selektionskriterium darstellt (vgl. Lange 2005: 18).
Durch zahlreiche Studien wurde nachgewiesen, dass bis zur Herstellung von
echter Chancengleichheit in Deutschland noch ein weiter Weg zu gehen ist (vgl.
Lange 2005: 87). Die Selektion aufgrund der Herkunftsschichtzugehörigkeit eines
Kindes, statt gemäß dessen Schulerfolgen und Leistungen, wird als soziale
Selektivität bezeichnet (vgl. Lange 2005: 154) und steht im Widerspruch zur
Chancengleichheit, die erst exisitieren würde, wenn “wenn Unterschiede zwischen
[…] sozialen Gruppen sich nicht mehr in den Bildungs- und Berufschancen von
Kindern auswirken würden” (Müller und Mayer 1976: 27).

3 Schichtspezifische und familiale Faktoren für Bildungsbiografien

3.1 Armut: Das mehrdimensionale Problem

„Armut ist kein Begriff wie jeder andere, sondern seit jeher höchst umkämpft“
(Butterwegge 2009: 12). Um die ideologische Verwertung oder Interpretation des
Begriffs „Armut“ zu vermeiden, ist eine wissenschaftliche Begriffsklärung
notwendig. Dabei ist die eindimensionale Konzeptualisierung, mit dem Fokus auf
Einkommensarmut, nur eingeschränkt aussagekräftig. Christoph Butterwegge hält
folgende Merkmale des mehrdimensionalen Problems Armut für entscheidend:
eine weitgehende Mittellosigkeit, ein länger andauernder Mangel an
unverzichtbaren, überlebensnotwendigen Gütern, die Notwendigkeit der
staatlichen Unterstützung für die Betroffenen, Mängel im Bereich der Wohnung,
der Haushaltsführung, Ernährung, Gesundheit, Bildung und Kultur, die beinahe
zwangsläufig zu Exklusion aus dem gesellschaftlichen Leben führen, die
Machtlosigkeit der von Armut betroffenen in allen sozialen, wirtschaftlichen und
politischen Schlüsselbereichen, eine weitgehende Marginalisierung und
Stigmatisierung der unter Armut Leidenden von Seiten der Allgemeinheit (vgl.
Butterwegge 2009: 17f). Der Ausschluss aus der Gesellschaft wird von Heinz
Bude als sehr wichtig benannt: ein Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft bleibt
den sozial Benachteiligten verweigert, ihre Fähigkeiten, Denk- und Fühlweisen
sind gleichsam überflüssig (vgl. Bude 2008: 14).

3.2 Kinderarmut in Deutschland

Was ist Kinderarmut? Meistens wird von Wissenschaftlern das Einkommen der
Eltern als Hauptkriterium für eine Definition von Armut oder Kinderarmut
festgelegt, nach dieser Methode, die auch als Ressourcenansatz bezeichnet wird,
gilt eine Familie dann als arm, wenn sie weniger als 50 Prozent des deutschen
durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommen erhält. Bei dieser Herangehensweise
bleibt aber unklar, wie viele Ressourcen beim Kind tatsächlich ankommen,
beziehungsweise was oder wie viel das Kind nicht erreicht (vgl. Butterwegge,
Klundt und Zeng 2005: 101ff).

Somit müssen die Ressourcen, die unter Armutsbedingungen beim Kind wirklich
ankommen, die Antwort auf die Leitfrage zur Bestimmung der Lebenssituation des
Kindes sein (vgl. Holz 2004: 14). Butterwegge meint, dass dieser
Lebenslagenansatz eher der Alltagswirklichkeit der Kinder entspräche als der
zuvor erwähnte Ressourcenansatz. Verschiedene Unterversorgungslagen seien
zusammen mit dem Einkommenskriterium zu betrachten, um von Armut in einem
erweiterten Sinn sprechen zu können. In diesem Zusammenhang spielen die
Lebensbereiche, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Freizeit und soziale Netzwerke
eine entscheidende Rolle (vgl. ebenda, Richter 2000: 8).
Um der Vielseitigkeit von Armut gerecht zu werden und ihre Auswirkungen und
Bedingungsgefüge nachvollziehen zu können ist solch eine Auffassung von Armut
„als soziale Benachteiligung in zentralen Lebensbereichen“ (ebenda) notwendig.
In Bezug auf Kinder bedeutet dies, dass auch „ihre Bildungschancen, ihre Wohnsituation, Spiel- und Freizeitmöglichkeiten, Kontakte zu Gleichaltrigen und
gesundheitliche Faktoren zu berücksichtigen“ sind (ebenda).
2005 dokumentierte die UNICEF-Studie Child Poverty in Rich Countries, dass
jedes Zehnte Kind in Deutschland in relativer Armut aufwächst. Das entsprach 1,5
Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren (UNICEF 2005: 4). Im März
2007 lebten laut Bundesagentur für Arbeit ca. 1,9 Millionen Kinder unter 15 Jahren
in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften (vgl. Schröder 2007 in Butterwegge 2009: 91).
Unter Berücksichtigung der Dunkelziffer und der Kinder in Sozialhilfehaushalten,
von Flüchtlingsfamilien und sogenannten Illegalen leben etwa 2,8 Millionen Kinder
in Deutschland unter dem Sozialhilfeniveau, das ist jedes fünfte Kind dieser
Altersgruppe (vgl. Butterwegge 2009: 91; Altgeld und Hofrichter 2010: 7). Hier
zeigt sich, dass Kinderarmut ein gesamtgesellschaftliches Problem von enormen
Ausmaßen ist, welches sich in den letzten Jahren verschärft hat.

3.3 Gesundheitliche Folgen von Kinderarmut

Kinder können nicht für eigene Gesundheit sorgen, sind abhängig von Eltern.
Gesundheitliche Schäden und gesundheitsgefährdendes Verhalten werden
wiederum bis ins Erwachsenenalter mitgenommen (Holz 2004: 16). Ein
Teufelskreis entsteht, da die gesundheitlich negativen Folgen wiederum an die
eigenen Kinder weitergegeben werden, der bereits mit einer erhöhten
Säuglingssterblichkeit beginnt (ebenda: 21, vgl. Butterwegge et al. 2005: 260 ).
Kinder die unter sozialer Benachteiligung, beziehungsweise Armut leiden, haben
in Bezug auf alle körperlichen und psychischen Erkrankungen (außer Allergien)
einen schlechteren Gesundheitszustand sowie eine höhere Sterblichkeit als Kinder
die in Familien ohne soziale Benachteiligung aufwachsen. Sie zeigen hinsichtlich
des Rauchen, ihrer Ernährung und Bewegung ein riskanteres Gesundheitsverhalten,
und nehmen außerdem seltener an Vorsorgeuntersuchengen teil.
Zudem erreichen die staatlichen Maßnahmen der Prävention und der Gesundheitsförderung
diese Kinder seltener und weniger häufig. Der Lebensmittelpunkt
der Betroffenen ist meistens in Regionen mit einem hohen Anteil an belastenden
Merkmalen und häufiger Unterversorgung mit Gesundheitseinrichtungen zu finden
(vgl. Holz 2004: 45).

Weiterhin können die gesundheitlichen Folgen für Kinder in Armut wie folgt
skizziert werden: Es gibt Probleme in der motorischen Entwicklung, Koordinationsstörungen,
Defizite bei der körperlichen Ausdauerleistung und durch Bewegungsmangel
bedingte Haltungsschäden. Über- und Untergewicht sind schon im frühen
Kindesalter häufiger festzustellen und können sich durch problematisches
Ernährungsverhalten, beziehungsweise Fehlernährung mit zunehmendem Alter
massiv verschlimmern. Die geforderte Bewältigung von Entwicklungsaufgaben
wird durch Konzentrationsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und Aggressivität
erschwert, spätere problematische Verhaltensweisen werden hierdurch begünstigt
(vgl. ebenda). Gesundheitliche Folgen von Kinderarmut sind außerdem Kopf- und
Bauchschmerzen, (Ein)-Schlafprobleme und gehäufte Müdigkeit in der Schule (vgl.
Butterwegge 2009: 260ff, Holz 2004: 25f).

3.4 Familiale Faktoren

Für die Frage, inwieweit Bildungsungleichheiten entstehen und unter Umständen
über Generationen reproduziert werden, was wiederum die Reproduktion sozialer
Ungleichheit impliziert, ist eine erweiterte Analyse von Bildungsprozessen
notwendig. Jenseits der klassischen Bildungsinstitutionen wie zum Beispiel der
Schule, ist die Bedeutung des Beziehungsgeflechts Familie für den Bildungserwerb
ausschlaggebend. Sozialisationstheoretisch unterscheiden Matthias
Grundmann et al. (2008) zwischen institutionalisierter und lebensweltlicher
Bildung. Lebensweltliche Erfahrungsinhalte werden vor allem in familiären
Zusammenhängen vermittelt. Eine „Engführung” des Bildungsbegriffes, sowie des
entsprechenden soziologischen Forschungsfeldes, in dem von Bildung vor allem
als gesellschaftlich verwertbares Gut ausgegangen wird, dem strukturfunktional
eine hohe Bedeutung zukommt, soll vermieden werden. Stattdessen muss der
bildungssystemische Analysefokus ausgebaut werden, und zwar durch Forschung
über die Familie, das Herkunftsmilieu und weitere private Lebenszusammenhänge,
in denen die lebensweltlichen Bildungsinhalte gelernt werden (vgl.
Grundmann et al. 2008: 47ff). So kann wiederum das, was in den Institutionen
gelernt und gelehrt wird, kritisch hinterfragt werden, indem es in Bezug zu den
tatsächlich stattfindenden lebensweltlichen Lernprozessen der Heranwachsenden
gesetzt wird. Schließlich ist hier auch die Frage zu beantworten, in wie weit die Schule für die verschiedenen sozialen Schichten wirklich lebensrelevantes
Bildungswissen aufbereitet (vgl. ebenda: 70).

4 Institutionelle Faktoren für Bildungsbiografien

4.1 Elementarbereich

Ob Bildungsprozesse von Kindern in Kinderkrippen oder Kindergärten
schichtspezifisch verlaufen, ist empirisch bisher kaum erforscht. Konzeptionell
spielt die soziale Differenzierung bei der Förderung der Kinder wahrscheinlich
keine Rolle, da die frühkindliche Pädagogik nicht auf individuelle Leistungsmessung
oder Selektion in Leistungsstarke und -schwache abzielt.
Die Wirkung der Kindertageseinrichtung ist oftmals kompensatorisch, gleicht also
Bildungsbenachteiligungen aus, da sich der Besuch vor allem für sozial
benachteiligte Kinder förderlich auswirkt.
So bestimmt vor allem der Zugang zu Kindertagesstätten die Benachteiligung der
Kinder. Sozial benachteiligten Familien stehen geringere Ressourcen zur
Verfügung als anderen Familien, so dass sie weniger Auswahlmöglichkeiten
haben. Sie müssen daher auf räumlich nähere Einrichtungen zurückgreifen und
können nicht nach dem pädagogischen Konzept oder der Ausstattung der
Einrichtung wählen (vgl. Rauschenbach und Züchner 2007: 126).

4.2 Grundschule

Im deutschen Schulsystem wird durch institutionelle Maßnahmen die Sicherung
einer fiktiven Homogenität der Leistungsniveaus in den Schulklassen angestrebt.
Zugunsten dieser vermeintlichen Homogenität werden die jeweils Leistungsschwächeren
ausgeschlossen beziehungsweise selektiert.
Vor dem ersten Schulbesuch werden etwa 11 Prozent aller Kinder zurückgestellt,
aufgrund angeblich mangelnder „Schulreife”. Besonders Migrantenkinder und
Kinder aus sozial benachteiligten Familien sind von dieser Maßnahme betroffen.
Außerdem werden Leistungsschwächere durch Sitzenbleiben, also Klassenwiederholungen,
und Sonderschulüberweisungen aus ihrer Lerngruppe entfernt.
Die Quote der sitzenbleibenden Migrantenkinder ist viermal so hoch wie die der einheimischen Schüler, in den Klassen Eins bis Drei. Kinder, die mit erheblichen
Problemen mit der Leistungs- und Verhaltensansprüchen zu kämpfen haben,
bekommen, nach einem diagnostischen Verfahren, eine Überweisung auf die
Sonderschule. Am Ende der vierten Klasse besuchen etwa vier Prozent aller
Kinder eine Sonderschule, davon mehr als die Hälfte eine Schule für
“Lernbehinderte”. Die Grundschule kann also nicht als eine Schule für alle Kinder
bezeichnet werden. Am Ende der vierten Klasse verbleiben nur noch 80 Prozent
der ursprünglich in Kasse Eins gestarteten Schüler in der Grundschule, alle
anderen wurden nach dem Leistungsprinzip “aussortiert”. Hiervon sind besonders
Kinder aus Migrantenfamilien und sozial benachteiligten Verhältnissen betroffen
(vgl. Tillmann 2007: 25ff).

5. Primäre und Sekundäre Herkunftseffekte nach Raymond Boudon

Raymond Boudon unterschied schon 1974 zwischen primären und sekundären
Herkunftseffekten, die als Erklärung für ungleiche Bildungsergebnisse herangezogen
werden können. Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft sind, den
primären Effekten nach, in der Schule unterschiedlich erfolgreich, da sie mit den
entsprechenden Leistungsanforderungen verschieden gut zu recht kommen. Dies
resultiert aus den ungleichen kulturellen, sozialen und ökonomischen
Bedingungen für kognitive Prozesse der Kinder und der variierenden
Unterstützung und Förderung in den Familien (vgl. Müller und Pollak 2008: 307).
Bei den sekundären oder positionsspezifischen Effekten spielen Kosten-Nutzen-
Entscheidungen bei Beenden oder Weiterführen von (institutionellen) Bildungskarrieren
eine wichtige Rolle. Kinder und Heranwachsende unterschiedlicher
sozialer Herkunft unterscheiden sich, selbst bei gleichen Leistungen, darin, ob sie
ihre Ausbildung auf einer gewissen Stufe beenden oder auf einer
anspruchsvolleren fortsetzen. Schichtspezifische Sozialisationsprozesse,
gewünschte Berufsziele und schulische Traditionen der jeweiligen Familien sind
maßgebend für die Entscheidung bestimmter Bildungslaufbahnen. Ditton betont,
dass “bereits im zweiten oder dritten Schuljahr, teils sogar schon beim
Schuleintritt” bei Eltern der Mittelschicht die Entscheidung über die zu wählende
Schulform nach der Grundschule feststehen kann (Ditton 2008: 253). Zusammen führen beide Herkunftseffekte zu einer zunehmend sozial selektiveren Schülerpopulation
von Bildungsstufe zu Bildungsstufe (vgl. Ditton 2008: 248f, vgl. Müller
und Pollak: 307). Rolf Becker bezeichnet deswegen soziale Ungleichheiten von
Bildungschancen als „ein unbeabsichtigtes Ergebnis des Zusammenwirkens
primärer und sekundärer Herkunftseffekte” (Becker 2008: 171).
Die primären und sekundären Herkunftseffekte nach Boudon lassen sich nicht so
leicht in die in dieser Arbeit vorgeschlagene Unterteilung der schichtspezifischen,
familialen und institutionellen Faktoren einordnen. Bei den primären Effekten
spielen die Herkunftsschichtzugehörigkeit und der familiale Hintergrund die
wichtigste Rolle. Die sekundären Effekte können so eingeordnet werden, dass
durch diese die Reaktion, oder das Zusammenspiel, der eigenen sozialen
Herkunft auf institutionelle Bildungsangebote und Selektionsmechanismen
beschrieben wird.

6 Fazit

Der Fokus der meisten Debatten und Forschungen über die Reproduktion von
sozialer Ungleichheit durch die starke soziale Selektivität des Bildungssystems
liegt oft auf dem Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen.
Dabei ist zu beachten, dass schon vor diesem Zeitpunkt zahlreiche Faktoren zur
Auslese nach sozialer Herkunft führen. Kinder aus sozial benachteiligten Familien
oder aus Familien mit Migrationshintergrund kommen öfter auf die Sonderschule
und müssen öfter Klassen wiederholen, durch so genanntes Sitzenbleiben.
Bei den gesundheitlichen Folgen der Kinderarmut wird deutlich, dass die
Schüler_innen eben nicht mit gleichen Startchancen in die Kindertagesstätte oder
sie Schule kommen. Wer öfter krank ist oder öfter in Straßenverkehrsunfälle (vgl.
Richter 2004: 22) verwickelt ist, ist automatisch seltener im Unterricht und hat
weniger Energie zum lernen. Wer sich im Unterricht darüber Gedanken macht,
wann es wohl wieder eine warme Mahlzeit gibt, oder wer einfach nur unzureichend
ernährt ist, dem wird es unmöglich sein, die gleichen Leistungen wie gesunde und
ausreichend ernährte Mitschüler_innen zu bringen. Ein Schulsystem, das streng
nach dem Leistungsprinzip selektiert, für die sozialen Hintergründe aber blind
bleibt, kann nicht für die im Grundgesetz garantierte Chancengleichheit sorgen.

Um dem Ziel echter Chancengleichheit näher zu kommen, beziehungsweise die
soziale Selektivität zu vermindern, müssen staatliche (und eventuell anderweitig
finanzierte) Programme dafür sorgen, dass die sozial benachteiligten oder von
Armut betroffenen Kinder und Familien von Geburt an, vor und während der
Teilnahme an Bildungsinstitution, besonders gefördert und unterstützt werden.
Findet ein so skizziertes Umdenken in der Bildungspolitik nicht statt, dann wird
soziale Ungleichheit und Armut reproduziert, die hohe soziale Selektivität der
Erziehungssysteme, die auch von den Vereinten Nationen gerügt wurde (vgl. FAZ
2006), bleibt weiterhin bestehen. Den Kindern werden so in den jüngsten
Lebensjahren Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg und damit verbundene
politische, wirtschaftliche und kulturelle Partizipation verwehrt.

 

Literaturverzeichnis

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